Stasi-Debatte um Linke-Fraktionschef: Gysis Fahrgast

Mit 18 geriet DDR-Bürger Thomas Klingenstein in Konflikt mit der Stasi. Seine Erinnerungen an eine Autofahrt haben Gregor Gysi erneut in Bedrängnis gebracht.

Gysi habe ihn von Havemanns Haus nach Berlin gefahren, erinnert sich Klingenstein. Bild: dpa

BERLIN taz Plötzlich tritt der Fahrer des Trabis auf der Frankfurter Allee aufs Gaspedal. Dann bremst er, schneidet einem Taxi den Weg ab. Das Taxi stoppt. Erwin steigt um und ist schnell zu Hause.

1961: Thomas Erwin kommt in Köpenick zur Welt, er wächst mit seiner Schwester in einem regimekritischen Elternhaus auf. Sein Vater ist Maschinenbauer, seine Mutter Verlagsmitarbeiterin. Erwins erste Schwäche: ostasiatische Wörterbücher. Mit ihnen fantasiert er sich in andere Länder.

1980: Erwin wird von der Stasi festgenommen und sitzt sechs Monate in Haft. Er wird in die BRD abgeschoben, wandert aus nach Frankreich und Japan. Erwin nimmt den Namen Klingenstein an, wird Künstler und kehrt nach der Wende nach Berlin zurück.

21. 5. 2008: Gregor Gysi zieht seine Klage gegen die Herausgabe einer Stasiakte am Berliner Oberverwaltungsgericht zurück. In der Akte heißt es, ein "IM" habe Erwin 1979 nach einem Treffen im Haus des DDR-Dissidenten Robert Havemann in Brandenburg zurück nach Berlin genommen. Erwin alias Klingenstein sagt: "Der Fahrer war Gysi."

So erinnert sich Thomas Klingenstein an das Ende der nächtlichen Autofahrt nach Ostberlin am 3. Oktober 1979. Klingenstein hieß damals noch Thomas Erwin, war 18 Jahre alt und schrieb nachdenkliche Gedichte. Längst hat er umgesattelt. Er ist Maler und lebt gut von seiner Kunst. Jetzt sitzt er auf einem tiefen Sessel in seinem Kreuzberger Atelier. Er steckt sich ein Pfeifchen an, blickt durch seine riesige Brille und das riesige Fenster und sagt, an dieses waghalsige Manöver könne er sich so genau erinnern, dass er niemals daran zweifeln würde, wer der Fahrer war: "Gregor Gysi, und niemand anders."

In einem neu zugänglich gemachten Teil der Stasiakte zum DDR-Dissidenten Robert Havemann taucht die entsprechende Autofahrt nach einem Treffen im Hause Havemanns mit dem Satz auf: "Der IM nahm ,Erwin' mit in die Stadt." Nicht nur die Fahrt ist erwähnt. Auch der Gesprächsinhalt findet sich in der Akte und eine Bewertung: "19 Jahre, Abiturient, negativ eingestellt."

Und weil Klingenstein keinen Zweifel an der Identität des Fahrers lässt, muss sich Gysi mal wieder gegen den Vorwurf verteidigen, er habe Regimekritiker an die DDR-Staatssicherheit verraten. Die neuen Indizien beschäftigen sogar den Bundestag. Alle Fraktionen außer seiner eigenen stürzen sich in der Aktuellen Stunde auf ihn. Der Linkspartei-Star beteuert seine Unschuld. Er sei ja schließlich von der Stasi für untauglich befunden worden, sagt er. Und zwar 1986. Da könne er 1979 noch gar nicht als IM gearbeitet haben. Außerdem habe er in Havemanns Auftrag gehandelt und ihm als Anwalt geholfen wie kein anderer.

Klingenstein sieht das anders. Er findet, Gysi verdrehe die Tatsachen. Havemann habe eigentlich einen völlig anderen Anwalt haben wollen: Götz Berger. "Aber der wurde abgelehnt", erinnert er sich. Er hält Gysis Argumentation für unglaubwürdig und sieht das in etwa so wie Marianne Birthler, Chefin der Stasiunterlagen-Behörde. Birthler sagt, sie sei jetzt überzeugt, der Linke-Mann habe "willentlich und wissentlich" mit der Stasi zusammengearbeitet.

Klingenstein könnte jetzt fürchterlich grollen. Er könnte sich in die Empörungsschlacht einklinken, endlich mal bundesweit bekanntes Diktaturopfer sein und sich bemitleiden lassen. Aber das passt nicht zu ihm. In solchen Kategorien hat er noch nie gedacht. Er sagt: "Spitzelei fand ich immer furchtbar. Ich will Klarheit, wie nah er der Stasi gewesen ist. Dazu trage ich gerne meinen Teil bei."

Der 47-Jährige will Aufklärung, aber ein Gysi-Fresser ist er nicht. Manchmal hört man von ihm sogar das Wort "eindrucksvoll", wenn er über den Linke-Fraktionschef spricht. Die Exzentrik, der enorme Unterhaltungswert, das sei alles schon damals erkennbar gewesen, vor knapp dreißig Jahren. "Und dieses Bremsmanöver auf der Frankfurter Allee, das war schon unkonventionell."

Unkonventionell. Da hat er mit Gregor Gysi einiges gemeinsam, denn das ist ein Wort, das auch ihn selbst sehr gut beschreibt. Oder: grenzüberschreitend. Heute sagt Klingenstein: "Das Restriktive der DDR hat mich dazu angespornt, Grenzen aufzulösen."

Mit 12 Jahren schon versucht er, diese Grenzen zu überwinden, weitgehend einzelkämpferisch. Denn seine Eltern - Vater Maschinenbauer, Mutter Verlagsmitarbeiterin - hätten ihm zwar "kein rosiges DDR-Bild vermittelt", ihn aber auch nicht gerade zur Konspiration erzogen: "Ich musste mich um alles kümmern." Er beginnt, Wörterbücher im "Internationalen Buch" am Alexanderplatz zu kaufen. Irgendwann sind es Dutzende. Abends im Bett lernt er Vokabeln. Heute stehen die Bücher in seinem Regal, das zwischen Eingangstür und Fenster bis unter die Decke reicht: Panjabi, Thai, Japanisch, das er immer studieren wollte, Birmesisch, Persisch, Singhalesisch, Bengalisch, Paschtu, Urdu. In der Mitte hängt ein Schild mit der Aufschrift: "Lesen gefährdet die Dummheit". Ganz rechts oben steht eine Mappe. Auf die ist Klingenstein besonders stolz. Es ist die Brieffreunde-Mappe, die er noch vor der Oberschule anlegte. "Lieber burmesischer Freund" ist einer dieser Briefe überschrieben, auf Deutsch, daneben auf Birmesisch. Abgeschickt wurde er nie. Aber das spielte keine Rolle. "Hauptsache die Fantasie setzte sich ab und an gegen die Realität durch", sagt Klingenstein.

Irgendwann reichte diese Fantasie nicht mehr aus. "Ich hab Fragen gestellt. Man musste etwas tun. Aber man konnte auch etwas tun", erinnert er sich.

Zum Beispiel an seiner Oberschule, deren Rektorin ihn mit den Worten empfängt: "Studienwünsche wie Japanologie werden wir hier auch noch korrigieren." Als dann noch eine Mitschülerin von der Schule fliegen soll, weil sie sich weigert, Fontanes "Effi Briest" mit Gorkis "Mutter" zu vergleichen, legt Klingenstein seine Funktion als "FDJ-Agitator" nieder. Ein nicht nur für die Schulleitung höchst irritierender Schritt. "Da wusste ich, ich habe meine Zukunft in der DDR verspielt."

Diese Zukunft dauert tatsächlich nur noch ein Jahr. In seinem Abiturzeugnis steht der Satz: "Er misst seine Standpunkte nicht an der gesellschaftlichen Wahrheit." Eine Vernichtung. Mit 18 findet er Zugang zum Kreis der Promidissidenten um den Chemiker Robert Havemann und die Schriftsteller Stephan Hermlin und Stefan Heym. "Nach Gesprächen mit Robert habe ich mich für Momente gefühlt wie Einstein", schwärmt er.

Im Oktober 1980, ein Jahr nach der Trabifahrt mit Gysi, stehen drei Autos vor seiner Wohnungstür in Prenzlauer Berg. Es ist die Stasi. Sie holt ihn ab "zur Klärung eines Sachverhalts". Die Haft dauert sechs Monate, Gysi wird sein Anwalt. Noch während der Haft veröffentlicht der westdeutsche Piper-Verlag Klingensteins ersten Gedichtband, damals noch unter dem Namen Erwin: "Der Tag will immer morgen bleiben".

Das Buch steht heute rechts im Regal, bei der DDR-Literatur, jederzeit griffbereit. "Hören Sie mal", sagt Klingenstein, "dieses Gedicht mag ich immer noch sehr gerne." Er liest es vor, es ist ganz kurz:

"Früher habe ich Ausrufezeichen geglaubt.

Dann habe ich einen Punkt gesetzt.

Jetzt liebe ich Fragezeichen."

Er schaut auf. Sein Gesichtsausdruck sieht fast so aus, als sei er für dieses Gedicht gern in Stasihaft gegangen.

Aus der Gefängniszelle wird Klingenstein in die BRD abgeschoben, von dort gehts nach Berlin, München, Paris, Tokio. In Japan entdeckt er sich neu, legt 1986 die Schriftstelleridentität ab, wechselt den Namen und erlebt die Wende. Kurz darauf kommt er zurück nach Berlin. "Ich habe meinen Hintern ganz schön auf die Umlaufbahn gebracht", beschreibt er diese Zeit.

Seitdem lebt er in Kreuzberg und ist Künstler. Ein nicht ganz typischer, Klingenstein erfüllt nie ein Klischee. Sein Atelier ist geradezu klinisch sauber. Pinsel und Farben finden sich penibel geordnet in einem kleinen Wandregal im Nebenzimmer. "Hier können Sie lange warten, bis eine nackte Frau hinterm Ofen hervorspringt", sagt er und lacht. Die zwei Räume sind riesig. Der kleine Mann wirkt darin geradezu verloren. Obwohl er mit seinem Pfeifchen und dem grünen Kapuzenpulli an Popeye erinnert, den muskulösen Comic-Seemann. Zwei große Gemälde zieren die Wände. Eines davon zeigt eine maoistische Offizierin mit ausgetrecktem Arm vor rotem Hintergrund. Darüber stehen japanische Schriftzeichen. "Safety First", übersetzt Klingenstein, Sicherheit zuerst. Das andere ist fast ausschließlich schwarz, nur am linken Bildrand sind die Umrisse eines weiblichen Oberkörpers erkennbar. Politisch? "Wie Sie wollen. Ich gebe da keine Deutung vor." Er lacht.

Eines aber würde er nie zulassen: Einen fremden Blick auf seine unfertigen Bilder. Er hat sie alle hinten im Kabuff verstaut, bei den Stasiakten. Und malen kann er nur, wenn ihm niemand zuschaut. "Ich bin ein solitärer Arbeiter. Und ein kompletter Autodidakt."

Klingenstein lässt sich nichts vorschreiben. Er ist ganz schön frei geworden. Die Enge des DDR-Regimes muss ihm vorkommen, als läge sie Jahrhunderte zurück. Aber manchmal holt sie ihn eben doch wieder ein. Wie auf dem letzten Geburtstag von Stephan Hermlin Ende der Neunzigerjahre. Oder auf der Beerdigung von Stefan Heym im Jahr 2001. Beide Male traf er auf Gysi. Klingenstein meint, sich an ein Kopfnicken erinnern zu können. "Eine Flüchtigkeit." Mehr nicht.

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