Stefan Kühl zur Soziologie des Holocaust: Handwerker des Todes

Psychische Schwäche, Alkohol, Kameraderie, Unterwerfung – von SA bis IS. Soziologe Kühl erkundet Voraussetzungen für massenhaft praktizierten Sadismus.

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Bild: dpa

Als vor sechsundsiebzig Jahren die Synagogen angezündet und jüdische Menschen unter Hohn und Spott wie Vieh durch die Straßen deutscher Städte getrieben wurden, waren die Täter meist Mitglieder der SA aus anderen Städten, während sich ortsansässige Passanten teils verlegen abwandten, teils interessiert gafften. Als drei, vier Jahre später jüdische Kinder, Männer und Frauen in Polen und in der Sowjetunion ermordet wurden, waren kaum Passanten zugegen, während ganz normale deutsche Soldaten und Polizisten dieses blutige Handwerk präzise verrichteten.

Das, was als „Holocaust“ bezeichnet wird, die planmäßige Ermordung von etwa sechs Millionen europäischer Juden durch SS, Wehrmacht, Polizei und ostmitteleuropäische Hilfstruppen, war keineswegs identisch mit dem, wofür gemeinhin der Ortsname „Auschwitz“ steht – nämlich die fabrikmäßig betriebene Vergasung. Vielmehr – darauf haben die Historiker Daniel Jonah Goldhagen und Christopher Browning in einer berühmt gewordenen Kontroverse hingewiesen – wurde etwa die Hälfte der Morde, bei denen die Täter u. a. Babys aus nächster Nähe erschossen, handwerklich mit Schusswaffen ausgeführt.

Derzeit fragt sich die Welt, wie es möglich ist, dass Milizionäre einer Organisation namens „Islamischer Staat“ in Videos, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, wehrlosen Geiseln den Hals abschneiden, wie es sein kann, dass junge, in westlichen Gesellschaften aufgewachsene Männer ausreisen, um anderswo zu rauben, zu morden und zu vergewaltigen. Kann es sein, dass es der angebotene Rahmen einer „Organisation“ ist, die Staatlichkeit suggeriert, der sie dazu motiviert?

Die Frage, wie derlei möglich ist und – mit Blick auf die deutsche Geschichte – möglich war, beschäftigt Geschichts-, Politik- und Philosophiewissenschaften spätestens seit Hannah Arendts bis heute heiß debattierter Reportage „Eichmann in Jerusalem“ aus dem Jahr 1961. In der stellte sie die These von der „Banalität des Bösen“ auf. Nach dieser geht die Bereitschaft zum willfährigen Vollziehen des Mordes an den Juden auf nichts anderes zurück als auf die Unterwerfungsbereitschaft durchschnittlicher Menschen unter bürokratische Zwänge.

Aus dem sozialdemokratischen Milieu

Vor 25 Jahren fiel die Mauer, alsbald verschwand auch die DDR. Spurlos? taz-Reporter erkunden, was geblieben ist – in den Biografien der Menschen, in Tagebüchern von damals und in Potsdam, einer bis heute geteilten Stadt. taz.am wochenende vom 8./9. November 2014. Außerdem: Hedy Lamarr war der Protoyp der unterkühlten Hollywoodschauspielerin. Dass wir ohne sie nicht mobil telefonieren könnten, weiß kaum jemand. Und: Pulitzer-Preisträger David Maraniss über Barack Obama. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Obwohl durch Forschungen der HistorikerInnen Doron Rabinovici und später Bettina Stangneth längst erwiesen ist, dass das im Falle Eichmanns nicht zutraf, er vielmehr ein fanatischer Antisemit war, nahm die Debatte durch Goldhagens 1996 publiziertes Buch über „Hitlers willige Vollstrecker“ noch einmal Fahrt auf. Die Mitglieder der von Goldhagen und Browning untersuchten „handwerklichen“ Tätergruppe, des Polizeibataillons 101, waren im Osten eingesetzte Hamburger Polizisten, die einem eher sozialdemokratischen Milieu entstammten und weder als NS-nah noch als übermäßig judenfeindlich zu betrachten waren.

Ihre Taten und Motive sind durch die Akten eines 1965 in Hamburg geführten Prozesses ungewöhnlich gut dokumentiert. Während Goldhagen die Mordbereitschaft der Polizisten mit der ihnen ansozialisierten deutschen Kultur einschließlich ihres tiefsitzenden Judenhasses erklärte, ging Christopher Browning einen eher sozialpsychologischen Weg.

Browning erklärte die Untaten der „ganz normalen Männer“ durch psychische Schwäche, Alkohol und Kameraderie – also durch Persönlichkeitseigenschaften. Parallel zu diesen Debatten versuchte der Historiker Hans Mommsen, eine „funktionalistische“ Erklärung gegen eine „intentionalistische“ Erklärung zu plausibilisieren. Demnach sei eine Untersuchung von Motiven und Absichten der Handelnden gegenüber den Strukturen ihrer Gesellschaft mehr oder minder müßig.

Die Debatte, wie der Holocaust zu erklären sei, hat jetzt, mit dem Erscheinen der vom Bielefelder Soziologen Stefan Kühl soeben vorgelegten Studie „Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“ eine sachliche Fortsetzung gefunden. Kühl ist weder Historiker noch Zivilisationskritiker, weder Tiefenpsychologe noch Philosoph, sondern Soziologe, also Angehöriger einer akademischen Disziplin, die kulturelle und politische Phänomene durch die Formen, in der Menschen zusammenleben, erklären will.

Die Form „Organisation“ ist demnach keine Maschine, in der Menschen wie Rädchen genau das vollziehen, was Personenverbände von Politik oder Wirtschaft programmatisch vorgeben. Es sind Gebilde, die häufig widersprüchliche Ziele verfolgen, deren Mitglieder widersprüchlich handeln, in denen nachgeordnete Mitglieder den Leitungen entgegen- oder eben überholend zuarbeiten.

Stefan Kühl: „Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 411 Seiten, 16 Euro

Ein Bündel von Motiven

Fragt man über den Begriff der Organisation nach den Motiven, welche die Mitglieder einer vormals legalen und legitimen Organisation wie der Polizei dazu brachten – zum Teil gegen eigene psychische Widerstände –, brutalste, mörderische Gewalt gegen besonders schwache und wehrlose Menschen auszuüben, so lässt sich ein Bündel von Motiven benennen, ohne dass deshalb die Erklärung für das Morden in einem multifaktoriellen Pluralismus enden würde.

Kühl benennt auf Basis der akribischen Lektüre der Prozessakten zum Polizeibataillon 101, die schon Goldhagen und Browning bemühten, sowie seiner beinahe lückenlosen Kenntnis der gesamten, jemals zum Thema Holocaust publizierten Forschungsliteratur sechs Mordmotive: unterschiedliche Formen der Identifikation mit dem Zweck der Organisation, tatsächlich erfahrener oder mindestens erwarteter Zwang, der Druck der Kameradschaft, Geld, die Attraktivität des Mordens durch Befriedigung sadistischer Gelüste sowie die indoktrinierte Entmenschlichung der Opfer und –schließlich – die „Generalisierung“ von Motiven.

Allerdings: Gerade dadurch, dass die mörderische Organisation ihr Vorgehen von den Motiven ihrer Mitglieder trennt, dass sie gegen eventuell verbliebene Zweifel an der Rechtmäßigkeit individuellen Handelns „Indifferenzzonen“ etabliert, Handlungsfelder, die die Akteure glauben machen konnten, mindestens nichts Verbotenes, sondern auf jeden Fall noch Zulässiges zu tun, wird sie effektiv.

Mit Blick auf den Holocaust fällt dann auf, dass er durch einen totalitären Staat mit „gierigen“ Organisationen, die alle Rollen ihrer Mitglieder kontrollieren wollten und – vor allem – unter Kriegsbedingungen vollzogen wurde. Genozide, das haben Erfahrung und Forschung seit 1945 gezeigt, werden in aller Regel im Zuge von bewaffneten Auseinandersetzungen, von zwischenstaatlichen und von Bürgerkriegen, vollzogen.

Normale Männer

Am Ende seiner ungewöhnlich kenntnisreichen, in der Sache bahnbrechenden sowie im argumentativen Duktus luziden Studie räumt der Autor ein, dass rechtliche, politische, wissenschaftliche oder auch wirtschaftliche Bedingungen zur Erklärung dieses Menschheitsverbrechens eine erhebliche Rolle spielen, dass aber ohne ein grundlegendes Verständnis von Organisationen als sozialer Form das Verhalten mindestens der „normalen deutschen Männer“ nicht erklärbar sei. Denn: „Organisationen, die“, so Kühl gewollt provokativ, „sich auf Foltern und Töten spezialisieren, funktionieren nicht grundsätzlich anders als Organisationen, die Kranke pflegen, für Eiscreme werben, Schüler unterrichten oder Autos bauen.

Die besorgniserregende Erkenntnis lautet, dass nicht nur die Mitglieder in auf Massentötungen spezialisierten Organisationen häufig ganz normale Menschen sind, sondern dass auch die Organisationen, über die Massentötungen geplant und durchgeführt werden, Merkmale ganz normaler Organisationen aufweisen.“

Ist das nun lediglich eine sozialwissenschaftliche, eine soziologische Weiterung von Arendts These von der „Banalität des Bösen“ oder eine grundlegend neue Einsicht? Sieht man Kühls Studie lediglich als soziologische Weiterung von Arendts These an, so wäre damit, allen Beteuerungen auch des Autors zum Trotz, das Böse – denn doch banal. Schlichtweg deshalb, weil Menschen jedenfalls im Rahmen einer bestimmten gesellschaftlichen Evolution gar nicht anders können, als eben auch Mitglied von Organisationen zu werden. Die Frage nach der Spezifizität genau dieser mörderischen Organisationen wäre dann der Geschichtswissenschaft und der politischen Wissenschaft, die ihre Programmierung zu klären hätten, überantwortet.

Geht es aber um mehr als lediglich um eine soziologische Korrektur von Arendts These, wäre gleichwohl die Besonderheit genau dieser Organisationen zu überprüfen – und zwar ohne Rückgriff auf die Geschichtswissenschaft. Lässt sich also die mörderische Programmierung selbst noch einmal soziologisch erklären – und das, ohne auf sozialpsychologische Motivforschung zurückzufallen? Womöglich sieht Kühl die Antwort auf diese Frage in einer historischen Rechtssoziologie angelegt, die den zunächst schleichenden Umbau des deutschen Rechtsstaates seit Hitlers Machtübernahme mit dem Ermächtigungsgesetz zu ihrem Thema hat.

Dort, wo an die Stelle überprüfbarer Verfahren zur Änderung gesetzten Rechts vage Begriffe wie „Volksempfinden“ oder „Führungswille“ gesetzt werden. Jene „Indifferenzzonen“, die es auch zunächst widerstrebenden Mitgliedern des Polizeibataillons ermöglichten zu morden, wurden nicht zuletzt dadurch geschaffen, dass es in der Heimat und vor allem an der Front weder eindeutige Gesetze noch Gerichte oder Berufungsmöglichkeiten gab, sondern lediglich diffuse Hierarchien von jeweiligen Vorgesetzten.

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