Stefanie de Velascos „Tigermilch“: Gott und seine verfaulte Welt

Sex und Freundschaft: In ihrem Debütroman „Tigermilch“ dekonstruiert Stefanie de Velasco das Bild einer maßlosen Großstadtjugend.

In den Sommerferien erleben die Mädchen krasse Dinge, die nur selten hinterfragt werden. Bild: dpa

Wenn Jameelah und Nini sich nach der Schule auf der Berliner Kurfürstenstraße in Pose bringen, verwandeln sie sich in Stella Stardust und Sophia Saturna. Die Shirts reichen knapp über den Hintern, darunter nur die Ringelstrümpfe hochgezogen. Auf dem Straßenstrich kommt das Schulmädchenimage gut an, der erstbeste Freier nimmt die beiden gleich mit.

Als Opfer erscheinen hierbei aber nicht die zwei Vierzehnjährigen, sondern der armselige Typ, der sich mit hundert Euro ein bisschen Aufregung für sein stinklangweiliges Leben kauft und letztlich nicht mehr als ein Frosch auf dem Seziertisch jugendlicher Experimentierfreude ist. „Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann müssen wir ja wissen, wie alles geht.“

In Höchstgeschwindigkeit rollt die Autorin Stefanie de Velasco zu Beginn ihres Debütromans „Tigermilch“ das Bild einer maßlosen Großstadtjugend auf, die im Hormonrausch nach immer neuen Wegen der Grenzerfahrung sucht, nur um es im Verlauf der Erzählung sorgfältig zu dekonstruieren. Im Zentrum stehen die Ich-Erzählerin Nini und deren beste Freundin Jameelah.

Sehnsuchtsort: Kinderklinik

Die Naivität der beiden Mädchen, die so gern schon Frauen wären, offenbart sich am eindringlichsten am Ort ihrer Sehnsucht, dort, wo Nini die Weisheitszähne gezogen werden sollen. „Echt?“, sagt Jameelah und schaut mich neidisch an, „In der Kinderklinik? Ist ja Wolke.“ Merkwürdig infantil mutet auch schon der Lieblingsdrink der beiden an, der dem Roman seinen Titel gibt: Schnaps mit Milch und Maracujasaft trinken sie, wenn sie klauen gehen oder mit Freunden abhängen.

Stefanie de Velasco, die vor zwei Jahren schon für einen Auszug aus „Tigermilch“ prämiert wurde, zeichnet ihre Figuren und das Schicksal, das sie ereilt, mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit. Das gelingt vor allem über die freche Schnauze, welche die Ignoranz und Fantasie des Kindlichen in Coolness übersetzt.

Spiel mit der Schmerzgrenze

Jameelah und Nini sprechen manchmal „O-Sprache“ miteinander, entweder um harmlose Dinge zu übertreiben – „Geld“ wird dann zu „Gold“, „Filter drehen“ zu „Folter drohen“ –, „oder weil Sachen viel zu kross sind und normale Sprache nicht reicht, um das Krosse an bestimmten Sachen zu beschreiben“.

Dabei bleiben die krassen Situationen, in denen sich Jameelah und Nini während der Sommerferien immer wieder befinden, stets Teil einer Normalität, die nur selten hinterfragt wird. Das macht die beiden auch schnell zu Freundinnen des Lesers. Autorin de Velasco beherrscht das Spiel mit der jugendlichen Schmerzgrenze so hervorragend, weil sie weiß, dass sie gar nicht zu dick auftragen kann.

Denn die Pubertät kennt ohnehin weder Widersprüchlichkeiten noch Distanz zum Selbst. Deshalb fixiert Ninis Perspektive auch nur das, was gerade zählt: Sex und Freundschaft. Erst im Kontrast zu Mitmenschen gewinnt die eigene Lebenswelt überhaupt an Konturen. Etwa im Vergleich zu dem „grünen Leben“, das Jameelahs Schwarm Lukas, der Waldorfschüler, führt.

Nach und nach offenbart Nini in fesselnder Beiläufigkeit eine soziale Realität, in der alles, was eigentlich binden sollte, längst abhandengekommen ist: eine depressive Mutter, die Tag und Nacht ihre Couch nicht verlässt; eine kleine Halbschwester, die vor ihrer ersten Regelblutung schon ein Alkoholproblem hat; und ein Vater, der seit Jahren nicht von sich hören lässt. Der einzige Anker in Ninis aufgewühltem Leben ist Jameelah, doch der droht eine Abschiebung in den Irak, weil ihre Mutter gegen die Auflagen des Asylverfahrens verstoßen hat.

Straßenkinder in Berlin

Den Irrationalitäten des Lebens lässt es sich im Doppelpack recht einfach trotzen. Von „Gott und seiner verfaulten Welt“ ist immer da die Rede, wo ein Elend erkannt und mit der eigenen Ungerechtigkeit gekontert wird. Etwa wenn Nini und Jameelah sich in einer absurden Szene der Menschenrechtsgruppe anschließen, um Lukas näher zu kommen, und sich dann entscheiden, dass die Spenden, die sie für Straßenkinder in Guatemala sammeln, in der eigenen Hosentasche genauso gut aufgehoben sind: „Wir sind doch auch Straßenkinder, sagt Jameelah, wir sind Kinder, und das ist die Straße.“

Die Unverwundbarkeit der beiden Mädchen und ihrer Freundschaft zerbricht aber dann doch, als sie gemeinsam Zeugen eines Mordes werden. Nun sucht die Todesangst in Gestalt eines schwarzen Pferdes Nini in ihrem Kinderzimmer heim. Dass die beiden unentdeckten Voyeure das Geheimnis für sich behalten, verwandelt das heftige Trauma zur Reflexion über die Moral.

Und das macht „Tigermilch“ zu einem hinreißenden wie lehrreichen Coming-of-Age-Roman für all jene, die noch nicht wissen, dass nicht Volljährigkeit erwachsen macht, „sondern die Dinge, die uns zustoßen, die, die uns verzweifeln lassen, die wir aber durch uns hindurchlassen müssen, ob wir wollen oder nicht, weil sie einfach größer und stärker sind als wir“.

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