Stimmungsbild Brasilien vorm Halbfinale: Heldentum und Opferrolle

Trotz Trauer und Wut geht Brasilien optimistisch und geeint ins Halbfinale. Dahinter lauern Argentinien und die Angst vor dem Trauma von 1950.

„Viel Kraft, Neymar!“, wünschen brasilianische Fans beim Spiel zwischen Argentinien und Belgien. Bild: ap

Der K.-o. von Neymar und das bevorstehende Traumspiel gegen Deutschland haben die WM endgültig zum einzigen Thema in Brasilien gemacht. Alle reden mit, für jede Gemütslage ist etwas dabei: Riesenfreude über den Einzug unter die letzten Vier, Entsetzen über das Ausscheiden des Volkshelden, Groll auf die Kolumbianer, Bangen vor dem Spiel gegen Deutschland. Eine gefährliche Mischung aus Opferrolle und Nationalismus – jetzt erst recht, wir halten zusammen, Heldentum.

Dabei zieht das Spiel gegen die Deutschen die Dramaturgie nur in die Länge. Der Showdown kommt ja erst am Sonntag. Gegen den Erzrivalen Argentinien, ausgerechnet im Maracanã. 64 Jahre Trauma seit der Niederlage gegen Uruguay wollen überwunden sein, da wird schnell vergessen, dass vorher noch Halbfinale ist. Oder vielleicht doch lieber verlieren, denn das Elfmeterschießen gegen Chile gab einen Vorgeschmack davon, dass die Nerven der brasilianischen Zuschauer nicht so gut sind wie die der Spieler.

Brasilien fällt es schwer, sich mit seinem Schicksal beziehungsweise dem von Neymar abzufinden. Einige Ärzte fabulieren schon von der Möglichkeit, er könne vielleicht mit ausreichend Schmerzmitteln doch im Finale mitspielen. In jeder Zeitung sind Wirbelsäulen abgebildet, wo den Lesern wie in einer medizinischen Fibel Sinn und Unsinn des dritten Lendenwirbels erklärt werden.

Gleich daneben der Missetäter, über den Einigkeit besteht: Das Foul war absichtlich, er hatte es auf Neymar abgesehen, das muss Konsequenzen haben! Und erleichtert wird endlich wieder über die Fifa gelästert, die Zúñiga bestimmt nicht so hart bestrafen wird wie den bissigen Suarez, auch wenn der brasilianische Fußballverband das jetzt fordert.

Hetzerei gegen Übeltäter Zúñiga

Der Versuch, das Gleichgewicht wiederzufinden, ist am besten in den sozialen Netzwerken zu beobachten. Die Attacken gegen den kolumbianischen Spieler gipfelten in Hetzkommentaren gegen seine kleine Tochter, deren Bild Zúñiga eilig aus dem Internet entfernte. Wie bei den Schmährufen gegen die Präsidentin und den Pfiffen bei der chilenische Hymne fanden viele, nun sei der Bogen überspannt: Das ist ein Kind, seid ihr noch bei Trost?!, posteten viele Brasilianer in Angst um das kollektive Image.

Andere sammeln sich zu Hunderten vor Neymars Villa im Strandort Guarujá, wo sich der Unglückliche erholt. Der Mythos wirkt fast beängstigend, und Neymar bastelt gerne mit daran: In einer Videobotschaft an das Volk konnte er nur mit Mühe die Tränen unterdrücken – „Ich werde weitermachen, wie werden gewinnen“ – und sprach allen aus der Seele.

Die Fans debattieren unterdessen die Zukunft auf dem Rasen. Eines ist sicher, es sieht nicht gut aus für den Gegner der brasilianischen Rest-Elf. Neymar wird als zwölfter Spieler auf den Rängen sein, das bislang eher unenthusiastische Publikum, das viel Geld, aber wenig Stadionerfahrung hat, wird mit entsprechenden Chören dafür sorgen.

Psychologisch sei die Ausgangslage gut, sagen viele: Trotz der Favoritenrolle gibt es jetzt einen für alle nachvollziehbaren Grund zum Ausscheiden, das mindert den Druck. Der Schicksalsschlag hat Mannschaft und Fans vereint, statt der bisherigen Erwartungshaltung und des ständigen Gemeckers über die mittelmäßige Leistung der Seleção sitzen jetzt alle im gleichen Boot. Ein neues Wir-Gefühl, das sich bis zum Kolumbienspiel nicht richtig eingestellt hatte.

Brasilien darf nicht verlieren

Und es geht gegen Deutschland, auch das ist für viele Brasilianer positiv. Natürlich ein schwieriger Gegner, bestimmt der nominell stärkste. Aber die Deutschen sind beliebt, es gibt keine besondere Rivalität außer der Tatsache, dass beide die in der WM-Geschichte bislang erfolgreichsten Teams waren. Einige freuen sich sogar auf ein besonders schönes Spiel, denn „die Deutschen sind ja nicht so ruppig“. Unzählige und brutale Fouls gab es am Samstag nur seitens der Kolumbianer, das ist Konsens in Brasilien.

Trotz Anspannung und Trauer genießen die Gastgeber die spielfreien Tage. Ein Ende des Ausnahmezustands ist abzusehen, sagen sich die Menschen vor allem in den Austragungsstädten. Bald ist wieder Alltag, die Touristen werden abreisen, das Hadern mit Fifa und der politische Zwist über die WM werden in den Hintergrund treten. Zumindest kurz, denn am Sonntag hat offiziell der Wahlkampf begonnen, und es wird ein erbitterter Schlagabtausch der Kontrahenten erwartet, mit Fouls, Pfiffen und vielen Tricks.

Doch so richtig will keine innere Ruhe aufkommen. Denn von Anfang an ging es nur um das Hexa, den sechsten WM-Titel, und der steht erst am Sonntag auf dem Programm. Noch nie hatte Robben so viele Fans wie heute, denn ihm wird zugetraut, die Argentinier aus dem Weg zu räumen. Wenn nicht, dann sieht alles anders aus: Argentinien hat Messi, aber uns wurde Neymar genommen. Die blau-weißen Fans sind zahlreich, laut und sehr effizient. Sie provozieren uns, aber wir sollen den guten Gastgeber geben.

Brasilien darf auf keinen Fall verlieren. Die ganze WM wäre auf einen Schlag dahin. Schlimmer noch, eine zweite Endspielniederlage im wichtigsten Fußballtempel der Welt wäre ein nationales Drama. Schlicht und einfach unvorstellbar.

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