Streit um Corona-Maßnahmen im Herbst: Kassenärztechef contra Lauterbach

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fordert ein Ende der Corona-Quarantänen und kritisiert Lauterbachs Impfstrategie. Der Minister widerspricht.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei einer Pressekonferenz in Berlin

Widerspricht Kassenärzte-Chef Gassen deutlich: Gesundheitsminister Karl Lauterbach Foto: Michael Kappeler, dpa

BERLIN dpa/epd | Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hat sich für eine Aufhebung aller Corona-Isolations- und Quarantänepflichten ausgesprochen. Diese sollten „bis auf weiteres aufgehoben werden, dadurch würde die Personalnot vielerorts gelindert“, sagte Gassen der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Wir müssen zurück zur Normalität. Wer krank ist, bleibt zu Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit. So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch.“

Aus dem Gesundheitsministerium kam sofort Widerspruch. „Infizierte müssen zu Hause bleiben. Sonst steigen nicht nur die Fallzahlen noch mehr, sondern der Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko“, schrieb Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Samstag auf Twitter. Aus dem Ministerium hieß es, aktuell würde eine weitere Verkürzung der Fristen zu den Möglichkeiten der Freitestung „keinen Sinn“ machen. Mit den geltenden Empfehlungen sei im Frühjahr bereits auf sich verschärfende Personalsituationen reagiert worden, hieß es weiter.

Auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) kritisierte, der Vorschlag komme zur Unzeit. „Wir befinden uns jedoch in einer hochdynamischen Infektionslage. Im Herbst erwarten wir einen weiteren Anstieg der Infektionszahlen. Niemand weiß, welche Virusvariante dann vorherrschen wird“, teilte Holetschek mit. Deshalb sollte man genau überlegen, ob es Sinn mache, die Regeln zur Isolation zu lockern.

Vorwurf des „Opportunismus“ an Gassen

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warf Gassen „Opportunismus“ vor. „Die Isolation schützt. Denn so wird verhindert, dass sich andere anstecken.“ Er verwies auf Long- und Post-Covid. Gassen spiele mit der Gesundheit der Menschen.

Hingegen sagte der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann, Gassen habe mit seiner Forderung nach einer Aufhebung der Isolationspflichten recht. „Dies ist ein lösungsorientierter Ansatz, um einen klügeren und individuellen Umgang mit Corona-Infektionen zu ermöglichen“, teilte er am Samstag mit. „Die Isolierungsdauer von Patienten mit Covid-19 sollte nicht mehr von staatlicher Seite fixiert sein. So können wir zu einer gewissen Normalität und Unaufgeregtheit zurückkehren.“ Die Isolationsdauer sollte nach Ullmanns Worten künftig eine medizinische und individuelle Entscheidung sein.

Gassen räumte ein, dass die Infektionszahlen seit Monaten sehr hoch seien und es wegen weniger Tests wohl zusätzlich Hunderttausende nicht erkannter Ansteckungen pro Tag gebe. Die Verläufe seien aber fast immer mild. „Das Problem sind also nicht die vielen Infektionen, sondern, dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben, in Isolation geschickt werden. Dadurch entstehen die Personalengpässe in den Kliniken und anderswo.“

Gassen bezeichnete die Omikron-Virusvariante „fast als Friedensangebot des Virus“. Wer sich nach einer Dreifachimpfung anstecke, „profitiert sogar von einer Infektion, indem er oder sie eine Schleimhautimmunität erwirbt“. Niemand sollte sich deshalb aber aktiv anstecken. „Aber wir können uns nicht dauerhaft vor dem Virus verstecken. Und wir sind das letzte Land in Europa, das noch derart aufgeregt über einen Corona-Notstand diskutiert“, urteilte Gassen.

Derzeit gilt für die allgemeine Bevölkerung, dass die vorgeschriebene Isolation für Corona-Infizierte nach fünf Tagen enden kann – mit einem „dringend empfohlenen“ negativen Test zum Abschluss.

Streit auch über Impfstrategie

Gassen warf Lauterbach zudem eine „falsche“ Impfstrategie vor, bei der bis zu hundert Millionen Euro verschwendet würden. Lauterbach plane bis zu 60 Millionen Impfungen im Herbst und Winter, sagte er. Nach einer Kalkulation seiner Vereinigung sei jedoch nur mit höchstens 30 Millionen Impfungen zu rechnen. Dabei seien ein zweiter Booster für alle ab 60, ein erster Booster für alle Jüngeren und ein üppiges Kontingent für Ungeimpfte großzügig eingerechnet.

Das Ziel der Bundesregierung von 50 bis 60 Millionen Impfungen „ist unseres Erachtens unrealistisch“, so Gassen. Sollte Lauterbach wie von Medien berichtet mehr als 200 Millionen Dosen bestellt habe, „ist zu erwarten, dass Impfstoff im Wert von möglicherweise hundert Millionen Euro oder mehr weggeworfen werden muss“.

Der Kassenärztechef kritisierte außerdem den Rat des Gesundheitsministers an unter 60-Jährige, sich rasch eine zweite Boosterimpfung zu holen. „Unter anderem aus israelischen Studien wissen wir, dass ein zweiter Booster bei jüngeren Gesunden nicht sinnvoll ist“, betonte Gassen. Lauterbach sei mit seiner Empfehlung zum zweiten Booster für alle „ziemlich exklusiv unterwegs. 30- oder 40-Jährigen pauschal eine vierte Impfung zu empfehlen, das halte ich für falsch.“

Auch im kommenden Herbst sehe er dafür aktuell keine Notwendigkeit, solange es nicht neue und deutlich gefährlichere Varianten gebe, ergänzte Gassen. „Ich werde mir jedenfalls keinen zweiten Booster geben lassen.“ Selbst bei den gesunden älteren Menschen wäre er mit der Viertimpfung zurückhaltend, insbesondere, wenn sie gerade schon eine Omikron-Infektion überstanden haben. Das Immunsystem sei ein hochkomplexes Organ.

Auch hier widersprach Lauterbach. Er habe nie behauptet, dass man im Herbst 60 Millionen Menschen impfen müsse, erklärte der SPD-Mann via Twitter. „Auch ist es nicht hilfreich, wenn ein wichtiger Ärztefunktionär betont, er werde sich im Herbst nicht impfen lassen. Das schafft kein Vertrauen.“

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