Streit um „Decolonizing Christmas“: Wenn Aufklärung zur Gefühlsfrage wird
Wer bei Mohammed-Karikaturen noch die Meinungsfreiheit verteidigt, fordert im Namen der Christenheit gern mal Zensur. Bei Weihnachten hört der Spaß eben auf.
E s wäre zum Lachen, wenn’s nicht so traurig wäre. Der Begriff Cancel-Culture klebt an der identitätspolitischen Linken. Obwohl US-Philosophin Nancy Fraser sagte, als sie 2024 aufgrund palästinasolidarischer Positionen von der Uni Köln ausgeladen wurde, dass es heute oft „rechter Zentrismus“ sei, der andere Meinungen mundtot macht.
Anschaulich wurde das kürzlich in Berlin, wo eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Decolonizing Christmas“ eingestellt wurde, nachdem die Welt eine Kampagne gegen sie gefahren hatte. Was genau besprochen wurde, als ein Christ und eine Muslima rassismus- und machtkritisch durch den Weihnachtsgarten der Friedenskirche Charlottenburg führten, tut hier wenig zur Sache – soviel ist klar: Es war eher harmlos.
Ganz anders behaupteten es die Springer-Kolleg:innen, die die eher dürftig besuchte Führung zum Politikum aufbliesen und einen Shitstorm lostraten. Der Vorwurf: Muslim:innen oder Postkoloniale wollten „Weihnachten abschaffen“. Die Welt jonglierte mit liberaler Demokratie, Geschmacklosigkeit und christlichen Gefühlen.
Berlins regierender CDU-Bürgermeister Kai Wegner sprang auf den Propagandazug auf und verlangte eine Prüfung des mit wenigen hundert Euro steuerfinanzierten Projekts. Einen zweiten Termin sagten die Veranstalter:innen ab. Die muslimischen Referent:innen seien massiv bedroht worden, ihre Sicherheit nicht mehr zu gewährleisten.
Wäre die Debatte nicht durch Springer so vergiftet, ließe sich darin eine spannende Frage verhandeln. Wiegt der Respekt vor religiösen Gefühlen schwerer als aufklärerische Errungenschaften wie Kritik- oder Meinungsfreiheit? Eine Frage, die sonst aufkommt, wenn es um Islam geht. Ist es richtig, Mohammed-Karikaturen abzudrucken, wenn sich einige davon beleidigt fühlen?
Rückkehr zum Dogma
Ein gutes Argument wäre: In einer Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit herrscht, muss es möglich sein, Religion zu kritisieren, weil sie öffentlich wirksam ist und Macht legitimiert. Es zu unterlassen, weil sie heilig ist, wäre eine Rückkehr zum Dogma, eine Art Zensur.
Ein Gegenargument wäre: Auch da, wo Meinungsfreiheit herrscht, muss nicht alles gesagt werden. Religion ist für viele Menschen sinn- und identitätsstiftend, Kritik daran erleben sie als Missachtung des moralischen Horizonts. Das ist schlecht für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, würden Kommunitaristen einwenden.
Beides valide Standpunkte. Witzig, dass die, die sonst immer für die Meinungsfreiheit in die Bresche springen, es auf einmal gar nicht mehr mit dem Liberalismus haben, wenn es um „eigene“ Traditionen geht. Universalismus? Fehlanzeige.
Ironisch ist der Fehlschluss, den die Welt zieht: „Decolonizing Christmas“ wollte Weihnachten, anders als behauptet, im aufklärerischen Sinne kritisieren, diskutieren, reflektieren – eben nicht abschaffen und im Keim ersticken. Nicht Wokies wollen Weihnachten canceln, rechte Hetzblättchen canceln offene Debatten.
Vermutlich glauben die Kolleg:innen sich ihre Argumente selbst nicht. Doch warum dieser Kulturkampf? Will man ablenken von der Fördergeldaffäre in der Berliner CDU? Oder lässt Springer die Propagandamaschine für die rassistische Berichterstattung nach der Silvesternacht schon mal heißlaufen? Wegen der hatte Wegner ja 2023 die Wahl gewonnen.
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