Bertelsmann-Studie zu Corona und Armut: 2,8 Millionen arme Kinder

Miese Lernbedingungen, wenig Freizeitmöglichkeiten, schlechte medizinische Versorgung: Eine Studie zeigt die Folgen von Kinderarmut.

Ein Mädchen auf einer Schaukel

Immerhin schaukeln ist (meistens) umsonst Foto: Sabine Gudath/imago

BERLIN taz | Die Zahl armer Kinder in Deutschland nimmt einfach nicht ab: Mehr als jede und jeder fünfte Minderjährige lebt in Armut, betroffen sind also rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Die Zahlen gehen aus einer aktuellen Erhebung der Bertelsmann-Stiftung hervor, die dafür zwei Armutsdefinitionen kombiniert hat: Die ForscherInnen zählten sowohl die Kinder aus Haushalten, die Hartz IV beziehen, als auch aus solchen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte zur Verfügung haben. Beide Werte sind seit 2009 ungefähr konstant geblieben – und das, obwohl die Wirtschaftskraft im Land bis zur Coronakrise Jahr für Jahr gestiegen war.

Vermutlich wird die Kinderarmut durch die Folgen der Pandemie jetzt sogar noch zunehmen. „Die wirtschaftlichen Folgen der Krise und die steigende Arbeitslosigkeit treffen arme Familien oder Familien im unteren Einkommensbereich besonders“, schreiben die AutorInnen. Betroffene Eltern hätten oft befristete Arbeitsverträge, seien in Teilzeit oder in Leiharbeit – Jobs also, die in der Krise als Erstes gestrichen werden. Auf Rücklagen könnten sie meist nicht zurückgreifen, Hilfsangebote wie die Tafeln und Freizeiteinrichtungen (siehe Interview) seien wegen der Pandemie höchstens eingeschränkt verfügbar.

Gerade im Bildungsbereich könnte die Ungleichheit wegen der Pandemie ansteigen. Oft haben arme Kinder in ihrer Wohnung keine Rückzugsorte, an denen sie in Ruhe lernen können. Rund 47 Prozent der von Armut betroffenen Familien leben der Studie zufolge in einer Wohnung ohne ausreichend viele Zimmer – im Vergleich zu rund 10 Prozent der Familien mit gesichertem Einkommen. Knapp ein Viertel der armen Familien hat keinen Computer mit Internetzugang – unter den übrigen Familien gilt das nur für rund 2 Prozent. „Für das Homeschooling sind das keine guten Bedingungen“, schreiben die ForscherInnen.

Kein Urlaub für arme Kinder

Immerhin: Viele elementare Grundbedürfnisse werden der Bertelsmann-Studie zufolge in Deutschland auch Kindern aus armen Familien erfüllt. Eine Wohnung mit Badezimmer, eine Waschmaschine und eine warme Mahlzeit am Tag fehlen kaum jemandem. Neben der Homeschooling-Situation gibt es aber auch viele andere Bereiche, in denen arme Kinder verzichten müssen: Sie kommen selten aus dem eigenen Umfeld heraus, müssen zum Beispiel auf Urlaube verzichten. Sie nehmen verhältnismäßig selten am kulturellen Leben teil, gehen also selten ins Kino, ins Theater oder zu Konzerten. Und auch auf medizinische Behandlungen müssen sie häufig verzichten – zumindest bei Leistungen, die nicht von den Krankenkassen bezahlt werden.

Der Verzicht hat allerdings nicht immer mit der Geldnot zu tun, sondern kann auch andere Gründe haben. So ist beispielsweise denkbar, dass manche Eltern selbst wenig Bezug zu Kulturveranstaltungen haben und schon deswegen ihre Kinder nicht mit ins Theater nehmen.

Aufgrund der Studienergebnisse fordert die Bertelsmann-Stiftung, dass „die Politik endlich aktiv werden“ müsse. Vor allem fordert die unternehmernahe Stiftung eine Kindergrundsicherung, die über das Existenzminimum hinaus eine „normale oder durchschnittliche Kindheit ermögliche“. Linkspartei-Chef Bernd Riexinger schloss sich dieser Forderung am Mittwoch an, verwies aber darüber hinaus auf tieferliegende Ursachen. Verantwortlich für Kinderarmut seien diejenigen, „die dafür sorgen, dass die Eltern der Kinder in unsicheren, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen stecken“. Arbeitnehmerrechte müssten daher gestärkt und der Mindestlohn angehoben werden.

Die Bundesregierung wies dagegen den Vorwurf zurück, dass sie zu wenig gegen Kinderarmut unternehme. Eine Sprecherin des Familienministeriums verwies unter anderem auf den Kinderzuschlag für GeringverdienerInnen, der im vergangenen Jahr um 15 Euro erhöht wurde. Diese und andere aktuelle Maßnahmen flossen in die Bertelsmann-Erhebung noch nicht ein: Bei der Errechnung der Armutsquote stützten sich die ForscherInnen auf Zahlen aus dem Jahr 2018. Auch der vermutete Anstieg durch die Coronafolgen ist daher durch die Erhebung noch nicht belegt.

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