Studiengebühren in Großbritannien: "Wie ein naiver Trottel"

Im Dezember reagierten die britischen Studenten wütend auf die Sparpläne der Regierung. Nun folgt die nächste Enttäuschung: Es wird weiter gekürzt.

Sie wehren sich gegen die Kürzung des Schulgelds und werden dafür als gewaltbereite Chaoten dargestellt: Schüler und Studierende protestieren Ende Januar in London. Bild: reuters

LONDON taz | Edward Woollard wäre der erste aus seiner Familie gewesen, der an einer Universität studiert hätte. Daraus wird die kommenden Jahre vorerst nichts werden, denn der 18-Jährige wandert für 32 Monate ins Gefängnis. Er protestierte am 10. November mit 50.000 anderen jungen Briten gegen die Studiengebühren und warf vom Dach des Millbank Towers, in dem die Konservativen ihr Hauptquartier haben, einen leeren Feuerlöscher in die Menschenmenge.

"Und natürlich war das extrem unverantwortlich und relativ dämlich", sagt Arfah Farooq und beißt energisch in ihr pappiges Sandwich, Ploughman-Art mit Cheddar und Essiggemüse. "Aber mindestens genau so erschreckend finde ich, dass dieser Teenager dafür länger hinter Gittern büßen muss als ein Krimineller mit fetter Vorstrafe. Sie hätten ihm endlose Sozialstunden aufdrücken sollen. Aber so wirkt es, als habe man an ihm ein Exempel statuieren wollen, um andere Studenten abzuschrecken."

Es ist ein verregneter Montagmorgen und am legendären Goldsmith College im Londoner Süden quälen sich junge Briten verschlafen in ihre Kurse: Kunst, Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften. Sie alle werden von den Erhöhungen zwar nichts mehr spüren, denn treffen wird es Studenten, die im nächsten Jahr mit ihrem Fach beginnen.

"Doch es schockt uns alle. Ich habe das rasende Steigen der Gebühren live miterlebt. Mein Bruder hat Anfang 2000 Finanzen studiert und 1.000 Pfund gezahlt, ich bin jetzt bei 3.000 Pfund. Ab 2012 geht es hoch auf bis zu 9.000 Pfund. Wo soll das enden, wenn mein kleiner Bruder, gerade acht Jahre alt, in zehn Jahren studieren will? Dieser Gedanke macht mich krank." Als Farooq ihren Eltern, die vor 30 Jahren aus Pakistan nach England kamen, 2009 eröffnete, dass Medienwissenschaften das Fach ihrer Wahl sei, mussten die schlucken.

Die Gebühren: Die Regierung des hoch verschuldeten Landes strebt Ausgabenkürzungen von 81 Milliarden Pfund an (1 Pfund Sterling entspricht 1,19 Euro). Die Hochschulen sollen mit 2,9 Milliarden Pfund zur Sanierung der Staatsfinanzen beitragen. Studiengebühren sollen von 2012 an auf bis zu 9.000 Pfund pro Jahr erhöht werden. An manchen Hochschulen käme das einer Verdreifachung der Kosten gleich.

Der Widerstand: Gegen die geplante Erhöhung kam es landesweit zu mehrfachen Protesten. Einer der bisher größten fand am 10. November 2010 in London statt, an dem um die 50.000 junge Briten teilnahmen und es zu Ausschreitungen kam. Unter anderem stürmten Studenten die Zentrale der Konservativen Partei und rund 50 Leute wurden festgenommen. Die Abstimmung für die Erhöhung wurde im Dezember zwar durchgesetzt, allerdings stimmten 21 liberale und sechs konservative Abgeordnete dagegen.

Doch sie ließen sich überzeugen. "Würde ich heute mit dem Studium beginnen und ihnen dieselbe Frage stellen, hätte ich dieses Fach nicht studieren dürfen", sagt die zierliche Londonerin und streicht sich ihren feuerroten Mantel glatt. "Ich komme aus einem normalen Arbeiterhaushalt und meine Eltern hätten darauf bestanden, dass ich etwas Konservatives studiere, was mir später einen Job garantiert, mit dem ich diesen gewaltigen Schuldenberg abbezahlen kann."

"Irgendetwas tun"

Die 19-Jährige spricht in einem Tempo, als befürchte sie, jemand könne die Worte ihrer präzisen Endlossätze klauen. Ihr Tonfall in messerscharfem Cockney-Englisch klingt wie eine permanente Aufforderung, kritisch zu denken, Dinge umzusetzen. Nach ihrem Abschluss im nächsten Jahr will sie zum Radio. Dass sie ihre Stimme im vergangenen Jahr den Liberal Democrats gegeben hat, zermürbt sie immer noch. "Meine Motivation war: Die Tories zu wählen, ist tabu und Labor musste einfach weg. Bei den Liberalen dachte ich plötzlich: Hey, das ist meine Partei! Als sie dann mit den Tories koalierten und alle Versprechungen über den Haufen warfen, habe ich mich gefühlt wie ein naiver Trottel!"

Kürzlich wurde sie einstimmig zur Black and Ethnic Officer gewählt, eine Art AStA-Sprecherin für die rund 15 Prozent Mitstudierenden mit Migrationshintergrund. Auf Youtube findet man Videos von ihr, ganz in schwarz und eine Rede haltend vor einem schwarzen Holzsarg, den die Studenten in einer spontanen Protestaktion gegen die Kulturkürzungen zusammengehämmert haben: "Hier ruht das Goldsmith College". Ein anderes Mal stellte Farooq sich im Rahmen einer Kunstaktion am Trafalgar Square auf eine Säule und hielt eine flammende Rede für die Freiheit Palästinas. "Irgendetwas muss man doch tun. Sonst wird man hier klein gehalten."

Wie Farooq rechnen viele in Großbritannien damit, dass die Bereitschaft zum Protest jetzt erst richtig und auch durch diverse Berufsschichten losgeht. "Protest als Form der Meinungsäußerung ist wichtig und ich war begeistert, wie viele junge Briten sich aufgerafft haben." Immerhin ist das Protestieren nicht unbedingt eine britische Stärke. Als bei der Entscheidung über die Gebührenerhöhung im Dezember unerwartet 21 Liberale und 6 Konservative dagegen stimmten, verbuchten viele Studenten das durchaus als ersten kleinen Triumph.

Das Dilemma, dem eine ganze junge Generation nun gegenübersteht, wurde wochenlang komplett überschattet von hysterischer Berichterstattung über Gewaltexzesse. Protest wurde zum Synonym für unkontrollierte Aggression. "Fenster zerschlagen ist nichts im Vergleich zur Zerschlagung des Bildungssystems", hieß es in einer Bekundung, welche Dozenten des Goldsmith College unterzeichneten. "Mein Dozent Des Freedman war einer von ihnen", sagt Farooq mit Stolz in der Stimme.

Für den Spruch wurde Freedman zur Heldenfigur vieler Studenten, während man in Downing Street scharf zurückbiss: In dieser Bekundung würde Gewalt bejaht. "Dabei hat er nur ausgesprochen, was viele Dozenten im Grunde genauso sehen", meint Farooq. "Für Unis mit künstlerischem Schwerpunkt wird es in England in Zukunft eng. Gerade hier wird extrem gekürzt. Daher auch unsere Begräbnis-Aktion." Am Goldsmith College machten bereits Künstler wie Bridget Riley oder Damien Hirst ihren Abschluss und lehrten renommierte Professoren wie Paul Gilroy.

Knietief in Schulden

In England ist es ein gewohntes Prozedere, durch das jeder Student muss: schnell studieren, exzellent abschließen und motiviert in die Arbeitswelt strömen, knietief in den Schulden, bisher um die 15.000 Pfund. Und das wird jetzt noch mehr. Argumentiert wird, dass man diesen Betrag aber bequem abzahlen kann, sobald man im Beruf ist. "Doch was ist das für eine Argumentation? Der psychologische Druck wird total ignoriert. Die meisten tragen diese Belastung Jahrzehnte lang mit sich herum."

Da Farooq selbst aus einer Familie mit Migrationshintergrund stammt, weiß sie außerdem, dass die Einstellung zum finanziellen Minus hier oft noch um einiges konservativer ist als bei den vielen weißen Briten mit zum Teil enormen privaten Kreditschulden. Diese Familien werden ihren Kindern eventuell noch eindringlicher in Zukunft klar machen, dass sie nicht studieren können.

An den Protesten beteiligten sich auch Studenten ihrer Uni mit Migrationshintergrund, doch es waren nicht besonders viele. Seit den Terroranschlägen in London und der damit verbundenen Stimmung gegenüber allem ,Fremden' sind vor allem viele muslimische Studenten verunsichert, wenn es darum geht, sich politisch zu engagieren. "Und genau dafür bin ich in meiner Position als Black and Ethnic Officer da, sie zum politischen Bewusstsein zu ermutigen, ihnen ihre Rechte aufzuzeigen."

Derzeit bereitet Farooq eine interkulturelle Veranstaltung an der Uni vor, es gibt viel zu tun und es könnte sie im Grunde ein wenig ablenken. Doch die Wut brodelt im Bauch, denn vor ein paar Tagen wurde eine weitere finanzielle Unterstützung gekürzt, die vielen vielleicht nur wie ein Detail vorkommt, die für Farooq aber einer der wichtigsten Bausteine für ihren bisherigen Bildungsweg war.

Education Maintenance Allowance (EMA) ist eine Art Schulgeld für Jugendliche zwischen 16 bis 18 Jahren aus sozial schwachen Familien zur Finanzierung der Fahrten zur Schule, für Bücher und Verpflegung. "Und es übt extrem in Disziplin. Denn, wenn ich damals nur 20 Minuten zu spät kam, wurde mir der Betrag, um die dreißig Pfund, für den Tag einfach gestrichen. Das hat mich trainiert, das College ernst zu nehmen."

Dass nun an dieser Stelle zusätzlich die Schere angesetzt wurde, sei eine kleine Katastrophe: "Wer nicht dieses Geld bekommt, kann den täglichen Schulbesuch nicht bezahlen. Wer nicht aufs College geht, kann nicht die Abschlüsse für eine Zukunft an der Universität erlangen …" Die EMA-Kürzung trieb vor ein paar Tagen junge Briten auf die Straßen diverser Städte. "Alle friedlich. Wäre nur ein Glas zersplittert, hätten die Medien gleich ein bedrohliches Event daraus gemacht."

Nun ließ auch noch die Polizei verlauten, dass sie demnächst eventuell durch die Straßen ziehen werde, dieses Mal allerdings nicht, um weiteren Protest in Schach zu halten: In den kommenden vier Jahren könnten rund 20.000 Briten im polizeilichen Dienst durch die Kürzungen ihren Job verlieren. "Auf eine fast tragisch-komische Art sitzen wir also alle im selben Boot", sagt Farooq und quetscht die leere Sandwichpackung in den überfüllten Mülleimer.

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