Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Das Verlangen nach Rache wächst

Tausende Syrer sind inzwischen vor dem Bürgerkrieg in die Türkei geflüchtet. Die Berichte aus ihrer Heimat machen sie wütend. An Diplomatie glauben sie nicht mehr.

Die Wut staut sich an: Flüchtlinge in Yayladagi protestieren gegen das syrische Regime. Bild: reuters

YAYLADAGI taz | In rasendem Tempo zählt Mohammed Ghraib die Ortschaften in Syrien auf, in denen das Regime in den letzten Wochen ein Massaker nach dem anderen verübt haben soll: Homs, Tell Kalakh, Hula, Hama, Trimsa. „Baschar bringt uns um, und alle Welt schaut zu“, sagt Ghraib. Dass er tatenlos zusehen müsse, bringe ihn fast um den Verstand.

Vor gut einem Jahr floh der 43 Jahre alte Techniker aus seinem Dorf nahe der syrischen Stadt Idlib. Regierungstruppen hätten sein Haus angezündet, berichtet er. „Außer einem Stück Land habe ich alles verloren.“ Seitdem lebt Ghraib in dem Flüchtlingslager in Yayladagi im Süden der Türkei. Es ist eines von mittlerweile acht syrischen Flüchtlingslagern in der Türkei, rund 40.000 Flüchtlinge hat die Türkei aufgenommen, und es werden mehr. Allein in den letzten Tagen sind nach offiziellen Angaben mehr als 1.100 Personen über die Grenze gekommen.

Dicht an dicht drängen sich die weißen und blauen Zelte um die Gebäude einer ehemaligen Tabakfabrik in Yayladagi. Rund 3.500 Männer, Frauen und Kinder leben in der Zeltstadt inmitten einer malerischen Hügellandschaft. Die syrische Grenze ist nur einen Steinwurf entfernt. Zwischen den Pinien-, Oliven- und Obstbäumen kann man von der Anhöhe auf dem Hügel gegenüber die ersten syrischen Häuser sehen. Und was jenseits der Grenze geschieht, versetzt viele in Yayladagi in Rage.

Nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR vom Dienstag sind 112.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei, in Jordanien, im Libanon und Irak registriert. Etwa 75 Prozent sind Frauen und Kinder.

Türkei: Nach Angaben der Behörden befinden sich 42.680 Syrer im Land.

Jordanien: 33.400 Flüchtlinge sind registriert; 2.644 warten auf ihre Registrierung. Laut Schätzungen leben 120.000 Flüchtlinge in Jordanien, viele sind privat untergebracht. Palästinensische Flüchtlinge aus Syrien werden manchmal an der Grenze zurückgeschickt oder mit Deportation bedroht.

Libanon: Hier halten sich 30.900 registrierte Flüchtlinge auf, 2.500 warten auf die Registrierung.

Nordirak: Dorthin fliehen vor allem Menschen aus den syrischen Kurdengebieten. Registriert sind 7.900 Personen, 1.453 warten darauf. (bs)

Als Ghraib im Mai letzten Jahres nach einem gefährlichen Marsch den Weg über die rettende Grenze geschafft hatte, glaubte er noch, der Sturz des verhassten Assad-Regimes stünde unmittelbar bevor. Heute steht er in billigen Plastiklatschen vor dem Flüchtlingslager, seine Zuversicht ist verflogen. Und daran ist für ihn auch der Westen und nicht zuletzt Amerika schuld.

„Die Amerikaner sagen, es liege an Russland, dass sie nichts tun können“, sagt Ghraib. „Aber das ist bloß eine Ausrede. Sie wollen uns nicht helfen.“ In scharfen Worten haben Politiker in den westlichen Hauptstädten und auch in Ankara das brutale Vorgehen der Regierungstruppen gegen die Aufständischen in Syrien immer wieder verurteilt. Doch seit Monaten ringt man um eine Lösung in dem Konflikt.

„Annan ist gescheitert“

Am Freitag läuft das Mandat der UN-Beobachtermission für Syrien aus. Der Sicherheitsrat berät derzeit über eine Fortsetzung. Mehrere westliche Länder haben einen Resolutionsentwurf eingebracht, der weitere Sanktionen vorsieht, sollte Assad seine Truppen und schwere Waffen nicht, wie im Annan-Friedensplan gefordert, binnen zehn Tagen aus den Wohngebieten abziehen; der russische Entwurf sieht keine Strafmaßnahmen vor.

Die Flüchtlinge in Yayladagi sehen in diesen Diskussionen nur sinnloses Palaver. „Annan ist auf ganzer Linie gescheitert“, sagt Ahmed Ayub. „Wozu sind die UN-Beobachter gut, wenn sie die Massaker nicht verhindern? Es ist besser, sie ziehen wieder ab.“

Wie Ghraib lebt auch Ayub schon seit Monaten in Yayladagi. Der 46-Jährige stammt aus Latakia, wo die Minderheit der Alawiten, denen auch Assad angehört, die Mehrheit bilden. Er selbst ist jedoch wie fast alle Flüchtlinge Sunnit. Bis zu seiner Flucht betrieb er nach eigener Auskunft ein florierendes Baugeschäft. Bis zum vergangenen August. Auf offener Straße sei er von Shabiha überfallen worden, sagt er. Die berüchtigte Miliz ging aus einer Bande von Kriminellen hervor und gilt heute als verlängerter Arm des Regimes. „Sie gingen mit Messern bewaffnet auf mich los und zerrten mich aus meinem Wagen“, sagt Ayub.

„Dann schlugen sie mir die Zähne aus.“ Über seiner linken Augenbraue hat der schmächtige Mann mit den grauen Haaren eine fünf Zentimeter lange Narbe, seine untere Zahnreihe fehlt komplett. Sein Sohn sei 25 Tage lang von Shabiha gefoltert worden, ein Cousin nach einem Schuss in den Rücken auf dem Weg ins Spital verblutet. Milizionäre hätten ihn an einem Check- point festgenommen, als sie feststellten, dass er Sunnit sei, berichtet Ayubs Sohn Ali. „Sie prügelten mich so lange, bis ich das Bewusstsein verlor.“

Dabei zieht er sein T-Shirt nach oben und zeigt auf zwei dicke vernarbte Striemen auf seinem Bauch. Auch andere Männer berichten von Checkpoints, an denen Sunniten wegen ihrer Religionszugehörigkeit misshandelt oder sogar getötet worden seien.

Das „V“ steht wohl nicht mehr für einen Sieg der Diplomatie. Bild: reuters

Religiös gefärbte Wut

Die Anschuldigungen gegen die Shabiha, denen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden, lassen sich derzeit kaum überprüfen. Einige Oppositionelle bemühen sich bis heute, die konfessionellen und ethnischen Gräben zu überbrücken. Unter den Sunniten in Yayladagi finden sie damit kein Gehör. Für sie steht fest, dass alle Alawiten für die Verbrechen verantwortlich sind.

„Für die Alawiten ist Baschar ein Gott“, fällt ein Alter dem jungen Ayub ins Wort. Mit einer heftigen Handbewegung schiebt er seine rot-weiße Kufiya, die Kopfbedeckung der arabischen Stämme, aus dem Gesicht. „Sie beten seine Bildnisse an.“

Die Berichte über Festnahmen an Checkpoints und die religiös gefärbte Wut erinnern an den Irak während des brutalen Mordens zwischen Schiiten und Sunniten. Und wie seinerzeit der Irak schlittert auch Syrien immer tiefer in den Bürgerkrieg. Über Skype-Gespräche und Kuriere verfolgen die Flüchtlinge in Yayladagi genau, was auf der anderen Seite der Grenze geschieht. Mindestens 16.000 Tote hat der Aufstand in Syrien bereits gefordert. Und mit jedem Toten mehr wachsen die Frustration und das Verlangen nach Rache und Vergeltung.

„Wenn wir Waffen hätten...“

An eine diplomatische Lösung des Konflikts glauben weder die Ayubs noch der Alte noch Mohammed Ghraib. Wie fast alle Männer, mit denen wir an diesem Tag sprechen, setzen sie auf den bewaffneten Kampf. „Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich noch heute zurück gehen und kämpfen“, sagt Ayub. „Ich auch“, wirft der Alte ein und reckt keck sein Kinn.

Saudi-Arabien und Katar, die am Golf die Speerspitze gegen das Assad-Regime bilden, haben wiederholt die Bewaffnung der Rebellen ins Spiel gebracht. Mehrere hundert Millionen Dollar sollen bereits an den oppositionellen Syrischen Nationalrat geflossen sein. Das sei alles nur Gerede, sagt Ghraib. „Wenn wir Waffen hätten, würden wir nicht hier im Camp sein, sondern kämpfen.“

Nach Auskunft eines syrischen Menschenrechtsaktivisten, der aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will, gelangte vor vier Wochen eine Waffenladung über die türkische Grenze an die Aufständischen. Lieferungen im großen Stil, wie von manchen Medien berichtet, habe es jedoch nicht gegeben. Er bestätigt die Klagen der Flüchtlinge, dass nur ein Bruchteil von dem Geld, das für die Rebellen bestimmt war, auch bei diesen ankommt. Ob es in den Taschen von Mitgliedern des syrischen Nationalrats oder korrupten Mittelsmännern verschwindet, lasse sich bisher jedoch nicht beurteilen.

„Die ganze Welt hat uns im Stich gelassen“, sagt Mohammed Ghraib. „Nur Gott und wir selber können uns noch helfen.“

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