TV-Serie „Die 99“: Muslim Superman

In der TV-Serie „Die 99“ kämpfen islamische Comic-Helden gegen das Übel auf der Welt. Westliche Kritiker warnen vor religiöser Propaganda – zu Unrecht.

US-Präsident Barack Obama ist begeistert von den islamischen Superhelden. Bild: Teshkeel Comics

Wir schreiben das Jahr 1258. In Bagdad herrscht Panik: Mongolenführer Hülägü, Enkel des gefürchteten Dschingis Khan, belagert mit seinen Truppen die Hauptstadt des islamischen Abbasiden-Reichs. Hülägüs Plan lautet: Zerstörung. Vor allem auf die große Bibliothek, das weltberühmte Dar al-Hikma, hat er es abgesehen. Er will Bagdad, das „Zentrum des Gelehrtentums und des Wissens der zivilisierten Welt“, im Herzen treffen. Denn: „Wissen ist Macht.“

So beginnt der Comic „Die 99“, der in diesen Wochen – im islamischen Fastenmonat Ramadan – erstmals auch als TV-Serie im Mittleren Osten und in Australien zu sehen ist. Die Kinder lieben sie, die 99 Superhelden, die heute – sieben Jahrhunderte nach dem Mongolensturm – für das kämpfen, was Hülägü zu vernichten suchte: das geballte Wissen der abbasidischen Hochkultur.

Um es kurz zu machen: Hülägü macht Bagdad platt, stürmt die Bibliothek, Tausende von Büchern landen im Tigris. Aber die eroberten Muslime – wir entfernen uns von den historischen Fakten – geben nicht auf: Sie tauchen 99 präparierte Edelsteine in den Fluss und saugen das im Wasser aufgelöste Wissen einfach auf. Die Noor-Steine sind geschaffen, die Steine des Lichts – getränkt mit der Weisheit der islamischen Zivilisation.

Wusp! Rughal wird böse

Drei Reiter bringen die 99 Steine nach Andalusien, ins islamische Spanien, wo ein junger, wissbegieriger Gelehrter namens Rughal eine geniale Idee hat: Er leitet die Strahlen des Mondes durch die Steine, bündelt sie zu einem gigantischen Laserstrahl, richtet ihn auf sich – und: „WUSP!“, wie es im Comic heißt, der Plan misslingt. Es kracht gewaltig, statt schlau wird Rughal böse. Und … Zeitensprung, schon befinden wir uns im 21. Jahrhundert.

Hier spielt die eigentliche Geschichte von „Die 99“, die sich in wenigen Worten zusammenfassen lässt: gut gegen böse. Gut sind die 99 Superhelden. Über 99 Länder der Welt verteilt, besitzen sie jeweils einen der wissensgetränkten Noor-Steine, was ihnen übermenschliche Talente verleiht. Böse sind ihre Widersacher, die es auf die mächtigen Steine abgesehen haben. Allen voran: Rughal (ja, er hat die Jahrhunderte überlebt, aber wer das für eine verrückte Geschichte hält, erinnere sich an Superman, der vom Planeten Krypton kommt).

Ortswechsel. Wir verlassen den Comic, bleiben aber im 21. Jahrhundert. Am Rednerpult steht Barack Obama und spricht über interreligiösen Dialog. Es ist der „Presidential Summit on Entrepreneurship 2010“. „Wo ist Dr. Mutawa?“, fragt Obama ins Publikum. Ein Herr macht sich bemerkbar. „Seine Comicbücher“, führt Obama fort, „haben die Köpfe von vielen jungen Leuten erobert. Seine Superhelden verkörpern die Lehren und die Toleranz des Islam.“

Genau das, folgt man Dr. Naif al-Mutawa, dem Erfinder von „Die 99“, sollten sie auch tun. Wenn der in Kuwait geborene Psychologe und Geschäftsmann erzählt, wie seine Helden und Heldinnen das Licht der Welt erblickten, klingt es meist pathetisch: „Ich ging zu den Quellen zurück, von denen andere Hass und Gewalt ableiten, und habe Toleranz und Frieden an ihre Stelle gesetzt.“ Außerdem, gibt er zu bedenken: „Batman und Superman wurden von jungen Juden in den USA und Kanada geschaffen, basierend auf der Bibel.“ Aber wo waren die Superhelden für die Kinder in der islamischen Welt?

Jeder Held hat etwas von Allah

Jetzt sind sie da, auf den Bildschirmen in Marrakesch, Kairo, Aleppo und Riad. Auf T-Shirts, Tapeten und Mützen. 99 Comic-Helden, entworfen nach den Eigenschaften Allahs: Gott, der Barmherzige; Gott, der Kräftige; Gott, das Licht, und so weiter, heißt es im Koran. Jeder Held und jede Heldin besitzt eines von Gottes 99 Attributen. Ein Supertalent pro Superheld.

Zum Beispiel „Jabbar, der Kräftige“. Ihn lieben die Kinder besonders. Ein herzensguter, muskelstrotzender Saudi-Araber. Oder „Noora, das Licht“ aus den Emiraten. In ihren Händen kann sie Leuchtkugeln formen und andere Lichtspielchen veranstalten. Und dann ist da noch Batina, die Verborgene. Wie ein Chamäleon passt sie sich der Umgebung an, wird unsichtbar.

Die Comic-Hefte erschienen erstmals 2006 in den arabischen Ländern, im Folgejahr auch in den USA. Monatliche Hefte, herausgegeben vom Verlag Teshkeel Comics in Kuwait, folgten.

Für den Look seiner Helden holte Erfinder Naif al-Mutawa Profizeichner der US-Comic-Verlage Marvel („Hulk“, „Spider-Man“) und DC Comics („Superman“, „Batman“) in sein Team.

In Kooperation mit DC Comics kämpften die „99er“-Helden in einer Special-Edition 2010/11 an der Seite von Superman und anderen amerikanischen Comicfiguren.

Die erste Staffel der animierten TV-Serie lief im Januar 2012 in der Türkei an. In diesen Wochen wird eine Episode erstmals auch täglich in den arabischen Ländern sowie in Australien ausgestrahlt. Eine zweite Staffel wird vorbereitet.

In Deutschland wird die TV-Serie bislang nicht gezeigt. Auch auf Yahoo Maktoob, das die Serie als Stream anbietet, ist sie in Deutschland aus lizenzrechtlichen Gründen gesperrt. (hag)

Anders als ihre unverschleierte Superkollegin Noora trägt die Jemenitin Batina nicht nur Kopftuch, sondern ist wortwörtlich verborgen hinter einem Nikab, dem im Jemen typischen Gesichtsschleier. Und das ist wohl der Hauptgrund, warum die TV-Serie es noch nicht bis in die USA geschafft hat. Der US-Kinderkanal The Hub hatte die Rechte schon erworben, aber dann kam die Kritik, denn nicht alle teilten Barack Obamas Begeisterung für die islamischen Superhelden.

Als „Comic-Missionare des Islam“ bezeichnete sie der Publizist Daniel Pipes in einem Artikel. „Die Superhelden sind alle Muslime. Einige von ihnen kommen aus westlichen Ländern wie den USA und Portugal. Die Bösen sind dagegen größtenteils Nichtmuslime“, kritisierte er im April auf National Review Online und warnte vor der „islamischen Indoktrinierung westlicher Kinder“.

Sind die Helden religiös?

Al-Mutawa hingegen besteht darauf, dass „Die 99“ kein religiöser Comic ist. Tatsächlich: Keiner der Helden betet. Niemand geht in die Moschee. Niemand spricht vom Islam. Von den Kopftuchträgerinnen abgesehen bleibt offen, wie die kleinen Superhelden es mit der Religion halten.

Und doch bleibt der Islam als Kultur ein wichtiger Aspekt des Comic. Die gesamte Backstory vom Untergang des glorreichen Abbasiden-Reichs verwurzelt den Comic in der Geschichte des Islam. Wie unzählige Drehbuchautoren und Comiczeichner vor ihm knüpft al-Mutawa an eine kulturell tief verankerte Erzählung an – mit einem wichtigen Unterschied: Bei den „99“ ist es nicht das Weltbild des überlegenen Westens (James Bond) oder die Erzählung der amerikanischen Weltretter (Superman), sondern der Topos der einst großen islamischen Zivilisation in Zeiten der politischen und kulturellen Krise.

Bagdad als Ausgangspunkt der Superhelden ist sorgfältig gewählt – nicht das zerstörte Bagdad von heute, sondern die Weltmetropole von einst: Hier blühten Kunst, Kultur und Wissenschaft. Hier ließ al-Kindi die Werke von Aristoteles und Platon übersetzen.

Wenn die Kinder im diesjährigen Ramadan-TV-Marathon wie jedes Jahr an den Bildschirmen kleben, um bloß keine Episode ihrer Lieblingsserie zu verpassen, dann wird ihnen mit „Die 99“ das Abbasiden-Reich als goldenes Zeitalter der Muslime präsentiert. Eine Indoktrinierung ist das nicht. Denn worauf diese – zugegeben etwas verklärte – Blütezeit des Islam basiert, ist der Drang nach Wissen, nach der in den 99 Noor-Steinen festgehaltenen Weisheit.

Die islamischen Comicfiguren scheinen also vor allem eins zu sein: ungewohnt. Nicht nur für die Kinder in der arabischen Welt, auch für die Erwachsenen im Westen.

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