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Tag der Wohnungslosen„Ein Kind hat auf der Straße nichts zu suchen“

Die Zahl der Wohnungslosen steigt, betroffen sind auch junge Menschen. Aber politisch passiert wenig. Betroffene bemängeln unzureichende Hilfesysteme.

Es braucht mehr Hilfsangebote für Obdachlose statt Regenschirme als Dach im Park, wie hier in Frankfurt Foto: Matias Basualdo/Zuma/imago

Berlin taz | Manja, die sich selbst nur mit Vornamen vorstellt, verliert gar nicht viele Worte. Dabei sollen an diesem Donnerstag, dem Tag der Wohnungslosen, die zu Wort kommen, die aus eigener Erfahrung sprechen können – wie sie. 8 Jahre lang hatte Manja keine eigene Wohnung, drei Jahre davon war sie obdachlos. „Ich habe also tatsächlich auf der Straße gelebt und habe in der Zeit ein Kind auf die Welt gebracht“, erzählt sie. Das Baby habe sie direkt zur Adoption frei gegeben, „weil ein Kind hat auf der Straße nichts zu suchen.“ Das Publikum klatscht.

Bei der Veranstaltung im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin-Mitte sind neben Jour­na­lis­t*in­nen auch viele wohnungslose oder ehemals wohnungslose Menschen anwesend. Heute setzt sich Manja bei der Wohnungslosenstiftung dafür ein, dass sich wohnungslose Frauen besser vernetzen können. Alle zwei Wochen gibt es den den „Frauensalon“, ein digitales Treffen, um sich über die spezifischen Herausforderungen von Frauen auszutauschen. Im November soll es in Essen das erste persönliche Treffen geben.

Laut dem Wohnungslosenbericht der Bundesregierung lebten Anfang 2024 in Deutschland insgesamt rund 531.600 wohnungslose Menschen. Darunter fallen obdachlose Menschen, also die, die auf der Straße leben, aber auch Menschen, die in Notunterkünften untergebracht sind sowie Menschen, die einfach bei Freunden auf der Couch schlafen. Das ist eine große Bandbreite. Fest steht: Es gibt immer mehr Menschen, die aus verschiedensten Gründen über keine eigene Wohnung verfügen.

Dabei hält auch die schwarz-rote Bundesregierung am Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Obdach- und Wohnungslosigkeit fest, der noch unter der Vorgängerregierung beschlossen wurde. Darin werden junge Menschen und Frauen als besonders bedürftige Gruppe genannt. Das übergeordnete Ziel ist aber, dass bis zum Jahr 2030 alle Menschen im Land mit adäquatem Wohnraum versorgt sind.

Doch daran glaubt im Haus der Demokratie und Menschenrechte niemand. Die Zahl der Sozialwohnungen sinkt, obwohl sich die Regierung mit Rekordinvestitionen rühmt.

Auch Kinder und Jugendliche sind gefährdet

Der im August veröffentlichte Statistikbericht der BAG Wohnungslosenhilfe problematisiert auch die anhaltend hohe Gefährdungslage von Familien mit Kindern. 11 Prozent der Menschen der Hilfesuchenden 2023 lebte demnach mit mindestens einem Kind im Haushalt.

„Fast ein Drittel (28,9 Prozent) der wohnungslosen Menschen in Deutschland, die in Notunterkünften leben, ist unter 18 Jahre“, kritisiert auch Claudia Engelmann, Expertin für das Recht auf Wohnen am Deutschen Institut für Menschenrechte. Das seien „mehr als 137.000 Babys, Kita- und Schulkinder, die ihre Kindheit und Jugend in diesen Unterkünften verbringen.“ Sie seien besonders „von den unzureichenden Bedingungen betroffen.“ Das Thema müsse politisch dringend ganz „oben auf die Agenda.“

Samara, auch sie bleibt beim Vornamen, ist am Donnerstag extra aus Leipzig nach Berlin angereist, um über Fehler im Hilfesystem für junge Menschen zu berichten. Samara ist selbst in einem Kinderheim aufgewachsen. Mit 16 Jahren sei sie „ausgezogen worden und in die Obdachlosigkeit geschickt worden“, so formuliert sie es. Anfangs sei sie bei Freunden untergekommen, sei weiter zur Schule gegangen, hätte Hilfe gesucht beim Bafögamt, Jobcenter, sie wollte unbedingt ihren Schulabschluss machen. Hilfe habe sie aber nicht bekommen, weil sich niemand richtig zuständig gefühlt habe. „Der O-Ton war immer in etwa, so einen Fall wie bei ihnen hatten wir noch nie“, sagt sie.

Genau dieses Problem beträfe viele junge Menschen, die in der Jugendhilfe aufwachsen. Insbesondere mit dem Erreichen der Volljährigkeit wird das Hilfesystem für junge Menschen löchrig. Viele gingen dann aber noch zur Schule oder machten eine Ausbildung, hätten kein Geld, erzählt Samara. Es ende dann „auch der Kontakt zu einer erwachsenen Bezugsperson, die viele dringend brauchen“, kritisiert sie.

Die Wohnungslosenstiftung, die das Treffen organisiert hat, fordert deshalb neben mehr bezahlbaren Sozialwohnungen auch mehr Prävention und Sofortmaßnahmen. Viele Wohnungslose machten die Erfahrung, dass „die sozialen Sicherungssysteme nicht gut oder gar nicht funktionieren“, heißt es in einer Stellungnahme.

Politische Reaktionen

Auch aus der politischen Opposition kommt Kritik. Der nationale Aktionsplan „könne nur ein erster Schritt sein“, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Sylvia Rietenberg. Es sei ein Fehler „dass die Bundesregierung im aktuellen Haushaltsentwurf für 2026 die Zuschüsse des Bundes für die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe empfindlich kürzen will“, sagt sie.

Sahra Mirow, Sprecherin für soziales Wohnen der Linken-Fraktion im Bundestag, fordert, strukturelle Ursachen von Wohnungslosigkeit beenden. Es sei „ein politischer Skandal, dass in einem der reichsten Länder der Welt mehrere hunderttausend Menschen wohnungslos sind“, sagt sie. Hauptgründe dafür seien „explodierende Mieten und fehlende Sozialwohnungen.“ Es brauche „eine radikale Wende in der Wohnungspolitik – weg von der neoliberalen Marktlogik, hin zu einer Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.“

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