Tagebuch aus Lettland: Zum Shoppen ausgerechnet nach Belarus
In vielen lettischen Städten liegen belarussische Waren ganz normal in den Auslagen – trotz Sanktionen. Der Handel mit dem Minsker Regime läuft gut.
D er Bürgermeister der lettischen Stadt Daugavpils, die nur 35 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt liegt, hat ganz offensichtlich eine besondere Schwäche für belarussische Quarkriegel. Selbst vor dem Hintergrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine, in dem mein Heimatland Belarus mitbeschuldigt wird, zögert er nicht, in seinem Büro Fotos von sich und seinen Quarkriegeln zu machen.
Ja, das schmeckt tatsächlich, das weiß er. Aber was der lettische Spitzenbeamte anscheinend nicht weiß – oder so tut, als wisse er es nicht -, ist, dass er mit dem Kauf belarussischer Waren das Regime der Unterdrückung und des Krieges unterstützt.
In einigen Geschäften in Riga sind tatsächlich belarussische Waren erhältlich: Süßigkeit, Schuhe, Bettwäsche, Socken, Kosmetika und sogar traditionelle Filzstiefel. Bei manchen Dingen ist allerdings das Jahr der Herstellung angegeben: 2025.
Wie kommen diese Produkte in die EU? Für uns Geflüchtete ist der Anblick einheimischer Waren in einem fremden Land eine Art therapeutischer Moment. Wenn wir sie in den Schaufenstern betrachten, ist es, als würden wir in dieses vergangene Leben eintauchen, das uns doch nicht zurückgegeben werden kann.
Busse fahren regelmäßig, Tickets sind begehrt
Auch viele Letten sind nicht dagegen. Sie kaufen gerne belarussische Waren, auch heute noch. Sie fahren sogar selbst nach Belarus zum Einkaufen. Und manchmal kaufen sie zu viel ein.
Schon vor dem großen Krieg in der Ukraine hatten geschäftstüchtige Einwohner von Daugavpils und Umgebung einen inoffiziellen „Grenzhandel“ betrieben: Waschpulver und Zahnpasta wurden nach Belarus gebracht, Benzin und Zigaretten nach Lettland. Noch heute sind Zigaretten in Minsk fast viermal billiger als in Riga, und Benzin ist doppelt so billig.
Mit dem Ausbruch des Krieges änderten sich die Spielregeln. Die lettischen Behörden schlossen die Grenze für Privatfahrzeuge mit belarussischen Kennzeichen. Doch die belarussischen „Pendelhändler“ wurden sofort durch lettische ersetzt. Das Geschäft duldet keine Pausen – vor allem nicht, wenn es in der Grauzone stattfindet.
So fahren Menschen aus Lettland in komfortablen Bussen mit lettischen Kennzeichen nach Belarus. Im Internet lassen sich sowohl Angebote für eintägige Einkaufstouren ab 47 Euro als auch Ausflugsprogramme für vier oder fünf Tage finden. Ich habe bei einem Unternehmen angerufen: Es gibt keine freien Plätze bis nächsten Monat.
Lukaschenka lockt Shopping-Touristen
Natürlich werden viele einwenden, dass die Menschen auch die Gräber ihrer Verwandten besuchen. Schließlich sind wir Nachbarländer und haben einen Teil der Geschichte gemeinsam. Aber eine Shoppingtour zu den Einkaufszentren von belarusischen Polotsk hat nichts mit Familienbanden zu tun.
Der gerissene Staatspräsident Lukaschenka erlässt jedes Jahr ein Dekret zur Abschaffung von Visa für EU-Bürger und lockt so immer mehr Touristen nach Belarus. Daraufhin warnen die lettischen Behörden: Reisen nach Belarus sind gefährlich. Es gibt sogar ein paar Fälle, in denen Letten in meinem Heimatland festgenommen wurden. Aber die Menschen reisen weiter dort hin.
Welche Worte sollte ich für Menschen wählen, die von der Folter in belarussischen Gefängnissen, meinem Weg als Flüchtling und der Unterstützung des belarussischen Regimes für den Krieg Russlands gegen die Ukraine wissen – und trotzdem nach Balarus zur Wurst fahren?
Kirill Turowski ist ein Journalist aus Belarus, er lebt derzeit im Exil in Lettland. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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