Tanznacht Berlin: Tüll und Totalzerstörung
Nicht eine, sondern fünf Tage und Nächte ging das Festival „Tanznacht Berlin 25“ in den Uferstudios. Viele der Projekte waren selbstfinanziert.
Ungefähr zehn Personen marschieren durch die Straßen im Wedding und an der Panke entlang. Jede*r für sich und doch als Kollektiv bewegen sie sich zu einem von außen nicht hörbaren Rhythmus. An Kreuzungen und Ampeln kommt die Gruppe kurz zum Stehen, aber dieser Beat ist weiter in den Körpern sichtbar.
Das ist „Technodrift“, eine Praxis entwickelt von der Künstlerin Maria F. Scaroni. Hierbei treffen sich Menschen draußen, hören das selbe Techno-Set und laufen ohne ein bestimmtes Ziel durch die Straßen (drifting). Inspiriert vom menschlichen Bedürfnis nach kollektivem Tanzen und Rhythmus war „Technodrifting“ auch ein Versuch der Heilung während der Covid-19-Pandemie, als Isolation und „Tanzverbot“ die Regel waren.
Außerdem ist und war kollektives Gehen bereits im historischen Kontext eine Möglichkeit für Queers und FLINTA*s, sich sicher durch die Stadt zu bewegen und sich die Straßen zurückzuholen. Der strömende Regen hat einige zwar abgeschreckt, doch für die anderen wird die Erfahrung ein bisschen magisch.
Mehr als klassische Performances
„Technodrift“ war nur eine der vielen Veranstaltungen der Tanznacht, die über den klassischen Performancerahmen hinausgingen. Unter dem Motto „Vocal Affairs“ bespielte das Festival beinahe das gesamte Gelände der Uferstudios. Zudem gab es eine feministische Bibliothek des MONAliesA Kollektivs aus Leipzig, einen Heilkräuterworkshop und noch vieles mehr.
Tanznacht als Name ist daher gar nicht mehr so passend, denn insgesamt erstreckte sich das Programm über fünf Tage und reichte weit über die Sparte Tanz hinaus.
Kuratiert von Mila Pavićević und Felicitas Zeeden rückte das Festival feministische Stimmen in den Fokus. Denn gerade Kultur und Tanz leben nicht in einem Vakuum. Die aktuellen Krisen der Welt hinterlassen ihre Spuren in den künstlerischen Arbeiten. Krieg, Klimakatastrophe, Gaza, Rechtsdruck und aufkeimender Faschismus werden in verschiedensten Formen aufgegriffen und spürbar gemacht.
Selbsterforschung, Selbstermächtigung
Ana Lessing Menjibar hat sich in „Third Skin“ mit ihrer eigenen Familiengeschichte und den Traumata von Krieg, Faschismus und Widerstand in Deutschland und Spanien beschäftigt. Auch Sina Saberi erforscht sich selbst und seinen Weg vom Kind zum Tänzer als Form der Selbstermächtigung vor dem Hintergrund einer House-Party in Teheran in den 90ern und lädt die Zuschauer*innen am Ende ein, mit ihm und als Kollektiv zu tanzen.
Agata Siniarska konfrontiert das Publikum in „null & void“ mit der realen Totalzerstörung durch einen Krieg und fragt, was danach kommen kann. Zunächst nur mit ihrer Stimme schafft sie eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse, die irgendwo zwischen Bombenhageln, Erdbeben und Hurrikan liegt. Das geht absolut an die Grenzen und ist schwer zu ertragen.
Aus der übriggebliebenen Materie schlüpft Siniarska schließlich als Wesen, das weder Mensch noch Tier ist und versucht sich in einer Umwelt zu bewegen, in der eigentlich nichts mehr lebt. Sie verkörpert dabei auch das Nichtmenschliche in ihren Bewegungen unglaublich eindrucksvoll. Doch kann auch diese Kreatur in einer zerstörten Welt nicht überleben und stirbt am Ende, schwarzes Blut läuft ihr aus dem Mund. Siniarskas Performance ist definitiv eine der intensivsten und lässt die Zuschauer*innen mit enger Brust zurück.
Mensch und Umwelt
Ebenfalls mit der Zerstörung der (Um-)Welt beschäftigt sich Sergiu Matis in „Warp renderings“, jedoch anhand von historischen und aktuellen Landschaftsbildern. Aus toten Materialien wie Folie, Metallstangen und Platten baut er sich seine eigene Landschaft, während auf einem Bildschirm romantische Malereien, Fotos von Kohleminen oder VR-Videos laufen. Dass der Mensch jeglichen Bezug zu seiner Umwelt verloren hat, wird deutlich, ist aber auch keine neue Information.
Dafür umso kreativer ist eine weitere Arbeit von Maria F. Scaroni zusammen mit Drag-Ikone Olympia Bukkakis. In „Unsex Me Here“ beschäftigen sich die beiden Künstlerinnen mit den Archetypen der Hexe und der Königin im westlichen historischen, aktuellen und im queeren Kontext. Ohne ins Plakative zu rutschen, schaffen sie humorvolle und ästhetische Assoziationen dieser Figuren, die teils außerhalb der heterosexuellen Reproduktionskategorien lebten.
Besonders bewegend ist jedoch ein Solo von Scaroni, in Gedenken an die Kinder in Gaza, in Trauerkluft unter einem schwarzen Tüllteppich, in den sie sich immer weiter verwickelt, während ein italienisches Trauerlied einer Mutter an ihr totes Kind erklingt.
Die diesjährige Tanznacht hat aufgrund der Kürzungen im Kultursektor, die besonders die Freie Szene betreffen, vor allem selbst finanzierten Projekten eine Bühne gegeben. Das Ergebnis ist ein fünftägiges, höchst diverses und politisches Festival, das zeigt, dass die Tanzszene trotzdem weitermacht und sich nicht unterkriegen lässt – trotz oder gerade wegen all der Krisen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess um verprügelte Neonazis
Anwälte fordern Freispruch für Hanna S.
Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen
Kein Bock auf Sahra
Deutsche Bahn
Es ist ein Desaster
Aufnahme gefährdeter Afghan*innen
Dobrindts Tricksereien untergraben den Rechtsstaat
Soziologin über AfD
„Rechte Themen zu übernehmen, funktioniert nicht“
Rüstungsgüter für Krieg in Gaza
Staatssekretär wollte Waffenexporte für Israel stoppen