Tatlin-Ausstellung in Basel: Der Künstler als Ideenlieferant

Wladimir Tatlins Kunst zielt auf den Alltag der Massen. Im Baseler Tinguely-Museum ist jetzt die Ausstellung „Neue Kunst für eine neue Welt“ zu sehen .

Besucher in Basel: Mit Tatlins Luftfahrrad in die neue Welt. Bild: dpa

1915 ist für die Kunstgeschichte – im engeren Sinne für die russische Kunstgeschichte – ein denkwürdiges Jahr. Von Dezember 1915 bis Januar 1916 fand in Petrograd (vormals Petersburg) die „Letzte Futuristische Ausstellung“ statt. Mit dem „Schwarzen Quadrat“ von Kasimir Malewitsch und den Eck-Konterreliefs von Wladimir Tatlin.

Beide Künstler hatten das Ziel, die russische Avantgarde aus dem Würgegriff des Westens zu befreien. Und doch dürften Picassos kubistische Karton- und Blechmontagen „Gitarre und Violine“, die Tatlin 1914 in Paris gesehen hatte, ihn bei seinen künstlerisch und gedanklich bahnbrechenden Konterreliefs beflügelt haben.

In der Ausstellung „Tatlin. Neue Kunst für eine neue Welt“ im Baseler Tinguely-Museum gibt es neben Rekonstruktionen gerade noch ein originales Eck-Konterrelief. Holz, Metall, Seile und Befestigungselemente bilden ein Gefüge, das die Leere der Raumecke ins Gegenteil verkehrt. Die Teilstücke greifen, je nach Material, mit Schärfe, Härte oder Spannung die pure Raumecke an.

An den Wänden (rekonstruierte) Konterreliefs, mit denen der Maler Tatlin nach Jahren als Matrose den Aufstand gegen die Malerei probte. „Wir glauben nicht mehr an das Auge, wir stellen das Auge unter die Kontrolle des Tastsinns.“

Das Räderwerk der „neuen Welt“

Die Basler Schau gibt Gelegenheit, Tatlins Anteil an der russischen Kunst in den Jahren vor und nach der Revolution 1917 neu zu bewerten. Von ihrer Vorgängerin 1993 in der Düsseldorfer Kunsthalle unterscheidet sie sich wohltuend durch den Verzicht auf eine vermeintlich die Aussagekraft der Werke befördernde Ausstellungsarchitektur.

Die legendäre Großtat des Künstlers und Revolutionärs Tatlin ist das Modell zum Denkmal der III. Internationale, das man in Basel in Rekonstruktionen der zwei Versionen von 1919/20 sieht. Entscheidend für die Wirkung dieses Tatlin-Turms – eine Doppelspirale mit V-förmigen Stützen – ist seine Schrägstellung parallel zur Erdachse. Im Innern rotieren stereometrische Körper nach kosmologischen Gesetzen um die eigene Achse.

Sie sollen das Räderwerk der „neuen Welt“ – im Sinne Lenins – abbilden, darunter ein Zylinder als Ort für Versammlungen und ein Tetraeder für die ausführenden Organe der Internationalen. Bürgerkrieg und extreme technologische Anforderungen verhinderten die Realisierung der Glas-Eisen-Konstruktion mit einer geplanten Höhe von 400 Metern.

Dass Tatlin mit seiner Kunst nicht blind in die Zukunft investierte, zeigen Experimente zur Entwicklung des muskelbetriebenen Flugapparats Letatlin („letat“ – russisch: fliegen). Leichtigkeit und Eleganz zeichnet die Rekonstruktionen aus, darunter eine originalgroße aus dem Zeppelin-Museum Friedrichshafen. Das „Luftfahrrad“ interessierte ihn als „komplizierteste dynamische Material-Form, die als ein Gebrauchsgegenstand in den Alltag der sowjetischen Massen Eingang finden kann“.

Lakonisch kraftvolle Malerei

Originalzeichnungen von 1929 bis 1932, dazu Fotografien, Prospekte und Plakate aus russischen Archiven und Museen veranschaulichen dieses Konzept. Ab 1927 lehrte Tatlin neben Alexander Rodschenko und El Lissitzky am Moskauer Institut Vkhutein in der Fakultät für Holz- und Metallverarbeitung.

Für die Kuratoren Gian Casper Bott und Anna Szech gibt es keinen Zweifel, dass Tatlin auch als Maler ernst genommen werden muss. Trotz der Nähe zu Cézanne und Matisse. Die lakonisch kraftvolle Malerei – das Selbstbildnis als Matrose und weitere Bilder aus den Jahren 1911 bis 1913 – hat in Basel ihren Ort als Ouvertüre zu den malerischen Reliefs und den Konterreliefs.

„Ich bin Künstler! … Ich liefere Ideen.“ In dieses Selbstverständnis bezog Tatlin auch seine Arbeiten für das Theater ein. Der buntfarbige Erzählstil beim Bühnenbildentwurf für eine Inszenierung der russischen Volksposse „Zar Maxemjan“ zielt auf die Mitmachlust des Publikums.

Unverwechselbar parodistisch in Rhythmik und Linearität sind die Kostümentwürfe für Michail Glinkas Oper „Ein Leben für den Zaren“ von 1913. Da weder ein Auftrag für die Entwürfe noch ein Hinweis auf eine Aufführung entdeckt wurde, gelten sie als „Theater aus Papier“, aufbewahrt im Moskauer Theatermuseum. Neuen Auftrieb bekam Tatlins Devise „Kunst ins Leben“ 1923, als ihm Regie und Ausstattung einer Aufführung von Velimir Chlebnikovs „Zangezi“ übertragen wurde.

Der russische Futurist hatte darin seinem Alter Ego sprachlich und musikalisch Gestalt gegeben. „Lachen“ und „Kummer“ – Kostümentwürfe und (rekonstruierte) Kostüme – das ist hier konstruktivistisch knapp Tatlins bildnerischer Kommentar zu dem, was sein Freund Nikolai Punin als „Mysterienspiel ohne Sujet“ bezeichnete.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 14. Oktober. Katalog: Hatje-Cantz, 52 CHF
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