Teenager als Eltern auf Probe: Wenn Kinder Kinder haben

Sie sind so groß und schwer wie echte Babys, weinen viel und schlafen wenig. Bei dem Projekt "Elternprobe" erleben Teenager, wie es ist, Mutter zu sein.

Echt stressig: ein Babysimulator. Bild: dpa

Die Geburten: 2004 haben laut Statistischem Bundesamt 868 Mädchen unter 15 Jahren ihr erstes Kind geboren. Zehn Jahr zuvor waren es noch halb so viele. Bei 16- bis 18-Jährigen zählte das Amt 6.163 Geburten im Jahr 2006. Die Abbrüche: Deutlich mehr Mädchen werden schwanger, tragen das Kind aber nicht aus. 2007 begaben sich 6.175 Mädchen zwischen 15 bis 18 Jahren in Abtreibungskliniken, 494 Patientinnen waren unter 15 Jahre. Die Ursachen: Mädchen werden ungewollt schwanger, weil sie beim ersten Sex nicht oder nur unzureichend verhüten. Das hat eine Studie des Deutschen Grünen Kreuzes ergeben. Nach Ansicht der Experten wissen die Mädchen nicht genug über ihren Körper, weil Aufklärungskurse und -broschüren das Lebensgefühl junger Menschen nicht gut genug einfangen

Denise-Verena Ladewig ist ein bisschen ungeduldig. Sie hat fünf Puppen aus Pappkartons gehoben, hat sie auf die fünf Babydecken auf dem Tisch gelegt, fünf Babytäschchen mit Flasche, Windel und Strampler daneben gestellt. Und jetzt wartet sie. Auf fünf Mädchen, die sich für das Projekt "Deine Elternprobe" angemeldet haben. Frau Ladewig leitet diesen Kurs. Es ist Freitagmittag in Kyritz, nordöstliches Brandenburg. Ein ganzes Wochenende lang, bis Montagmorgen, sollen die Mädchen Mütter sein.

Auch Roswitha Schreiber wartet. Sie ist eine von zwei Sozialarbeiterinnen an der Kyritzer Carl-Diercke-Oberschule, sie hat das Projekt mit Denise-Verena Ladewig vereinbart. Es ist schon einiges über die verabredete Zeit, aber es sind erst zwei Mädchen da. Die Sozialarbeiterin atmet tief durch.

Schreiber und Ladewig hatten gehofft, dass alle fünf Mädchen kommen. Gerade erst, zum Schuljahresende, hat eine 16-Jährige aus der Diercke-Schule ein Baby bekommen. Die Schwangerschaft und die Geburt sind Gesprächsstoff in der kleinen Stadt. Eine Mutter, die noch zur Schule geht, ist nicht unbedingt üblich hier. Aber das ändert sich. "Teenagerschwangerschaften nehmen zu", sagt Denise-Verena Ladewig. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist Still- und Laktationsberaterin, wohnt auch in Kyritz und kennt im Landkreis viele Mädchen und Frauen, vor allem jene, die schwanger geworden sind. "Viele Mädchen heute nehmen alles so leicht. Aber ein Baby ist kein Spielzeug", sagt sie.

Deshalb ist sie hier, mit ihrem Elternprobe-Projekt. Seit einigen Monaten zieht sie damit durch die Schulen und in soziale Einrichtungen in der Region, sie will, dass Mädchen und Jungen körperlich spüren, wie es ist, ein Baby zu haben. Dafür hat sie die Puppen mitgebracht, jede so groß und so schwer wie ein Neugeborenes: 50 Zentimeter und 3.200 Gramm. Gleich wird Denise-Verena Ladewig über einen Minicomputer die Puppen zum Leben erwecken, die werden dann atmen, glucksen, weinen und schreien wie richtige Babys. Das Computerprogramm legt fest, ob sie schläfrig oder unruhig, hungrig oder satt sind.

Zum Kurs gekommen sind heute Patricia Moring und Annika Zinke. Patricia schaut ungeduldig auf die Uhr ihres Handys. Sie ist 16 Jahre alt und hat gerade die 9. Klasse hinter sich. Auch Annika Zinke, 15, 8. Klasse, drängelt: "Die anderen kommen sicher nicht mehr." Die beiden ziehen das hier auch allein durch. Sie wissen, was sie erwartet, sie haben den Kurs schon einmal mitgemacht. Vor zwei Monaten hat Denise-Verena Ladewig ihre Babysimulatoren zum ersten Mal in die Diercke-Schule getragen. Damals waren 15 Mädchen - auch Jungen - Eltern auf Probe. "Eigentlich waren das zu viele", sagt die Stillberaterin. "Optimal sind fünf Teilnehmer."

Patricia und Annika schielen rüber zu den Puppen. "Mein letztes Baby hieß Christoph", sagt Annika. Sie schleicht um den Tisch herum und streichelt einem Jungen liebevoll über den Kopf. Dann sagt sie: "Meine Mama hat sich gewundert, dass ich noch mal mitmache." "Meine Mutter", sagt Patricia, "würde es nicht schlimm finden, wenn ich jetzt schwanger wäre". "Hm", sagt Denise-Verena Ladewig.

Dann knippert die Kursleiterin den Mädchen ein Plastikarmband ums rechte Handgelenk, so wie man es in manchen Diskotheken als Eintrittsmarke bekommt. Die Armbänder werden in den kommenden drei Tagen ein Teil ihres Körpers sein, darin ist ein Identifikationschip eingebaut. Der stellt den Kontakt zu den Babys her und zeichnet alles auf, was die Mädchen mit den Babys anstellen. Wann sie es füttern und wickeln, ob sie es trösten, wiegen und streicheln. Denise-Verena Ladewig hält den Minicomputer an die Puppen. Piep, angeschaltet. Jetzt sind die Puppen empfindlich wie lebendige Säuglinge.

"Das Baby merkt, wenn es zu hart angefasst oder wenn es geschlagen wird", sagt Denise-Verena Ladewig. Es reagiert auf Wärme und Kälte. Patricia und Annika haben Decken mitgebracht, um ihre Babys einzuwickeln.

Die Idee, mit programmierten Puppen ungewollten Teenagerschwangerschaften vorzubeugen, stammt von einem amerikanischen Ehepaar. 1993 baute Rich Jurmain zu Hause den ersten Babysimulator, inzwischen werden die RealCareBabys auf der ganzen Welt animiert. Zwei deutsche Pädagoginnen, Edith Stemmler-Schaich und Uta Schultz, bauten in Delmenhorst Mitte der 90er Jahre das Projekt "Babybedenkzeit" auf. In Städten wie Rostock, Freiburg, Koblenz und Wiesbaden gibt es heute so genannte "Babybedenkzeit"-Kompetenzzentren und bundesweit über 300 Einzelprojekte.

Eines davon ist das von Denise-Verena Ladewig. Sie hat sich vor anderthalb Jahren in Delmenhorst ausbilden lassen und wurde dann in Kyritz Koordinatorin des "Netzwerkes für gesunde Kinder". Sie will nicht nur Teenagerschwangerschaften verhindern, sie kämpft auch dafür, dass Kinder gut versorgt aufwachsen und manche Eltern überhaupt erst mal erfahren, was alles dazugehört. Man könnte auch sagen, Denise-Verena Ladewig ist die Ursula von der Leyen von Ostprignitz-Ruppin.

"Weißt du noch, wie das mit dem Zyklus der Frau ist?" Ladewig schaut Annika an. Die schweigt. "Wann wird eine Frau schwanger?", bohrt die Kursleiterin. Annika zuckt mit den Achseln: "So in der Mitte?" Ladewig ist eine ruhige, empathische Frau. Mit ihren offenen Haaren, die bis über ihre schmale Hüfte reichen, wirkt die 36-Jährige selbst noch fast wie ein Mädchen. In diesem Moment aber ist ihr Ton gereizt: "Mädels, das müsst ihr euch merken, das ist das A und O." Also noch mal von vorn. Denise-Verena Ladewig schmeißt den Beamer auf dem Tisch an, auf der Leinwand erscheinen Bilder aus dem Biologielehrbuch: weibliche Geschlechtsorgane, Eisprung, Verhütungsmittel.

Junge Mädchen werden schwanger, weil sie beim ersten Sex oft nicht oder nur unzureichend verhüten. Das hat eine Studie des Deutschen Grünen Kreuzes ergeben. Nach Erfahrung der ältesten deutschen Vereinigung zur Förderung der gesundheitlichen Vorsorge fangen Aufklärungskurse und -broschüren das Lebensgefühl junger Menschen nicht richtig ein. Das Elternzeit-Projekt ist der Versuch, einen neuen Zugang zu finden.

"Kinder zu haben ist etwas sehr Schönes", erklärt Denise-Verena Ladewig. "Wenn man das richtige Alter hat und einen fertigen Beruf." Sie hat selbst vier, alles Wunschkinder. Das erste Baby kam, als sie 20 war, der jüngste Sohn ist drei. Denise-Verena Ladewig schaut die beiden Schülerinnen eindringlich an.

"Es gibt einen eindeutigen Trend", sagt Ladewig, "die Mädchen werden immer jünger." Auch bei der zweiten Schwangerschaft. Die Stillberaterin trifft in den letzten Jahren immer häufiger auf 16-Jährige, die ihr zweites Kind erwarten.

Die Tür zum Sozialarbeiterzimmer geht auf, Annikas Mutter kommt herein, sie will ihre Tochter und ihr Wochenend-"Enkelkind" abholen. Sie ist extra mit dem Auto gekommen. Denise-Verena Ladewig bindet auch ihr einen Chip um. Annika will, dass ihre Mutter diesmal mitmacht, damit sie nicht immer ganz allein für das Baby verantwortlich ist. "Der Computer merkt, wer das Baby hat", sagt die Projektleiterin. Sie zieht eine Augenbraue hoch: "Annika, es ist dein Baby." Das Mädchen nickt, die Mutter lächelt verschämt. Man weiß nicht genau, ob sie sich über den Familienzuwachs wirklich freut. Sie sagt: "Nicht, dass Annika nun tatsächlich ein Baby will." "Mama", sagt die Schülerin heftig, "ich will jetzt keins. Ich will nur besser sein als beim letzten Mal."

Beim letzten Mal hat Annika eigentlich fast alles richtig gemacht. Nur ein paarmal hat sie vergessen, das Köpfchen zu stützen, zwei- oder dreimal nicht bemerkt, dass das Baby Hunger hatte, und sie hat es zu selten gewickelt. Das ergab ein Pflegelevel von 79 Prozent. "Das ist gut", sagt Denise-Verena Ladewig. Andere Mädchen brechen das Projekt ab, erzählt sie, manche schon nach wenigen Stunden, weil sie einfach nur müde sind. Aber Annika hat durchgehalten, die ganze Zeit. Sie ist nachts aufgestanden und hat das Baby gefüttert, sie hat es getröstet und umhergetragen. "Annika kann das", sagt Denise-Verena Ladewig. "Ja", sagt die Mutter. Sie hat noch drei weitere Kinder, Annikas jüngere Geschwister.

Patricia hat es eilig, sie darf den Bus nicht verpassen. "Kommst du Montag früh mit den Öffentlichen?", fragt Denise-Verena Ladewig. "Dann schalte ich das Baby für sechs Uhr aus, dann weint es im Bus nicht."

Montagmorgen, vor Schulbeginn. Patricia und Annika halten ihre Babys im Arm. Piep, ausgeschaltet. "Das sind jetzt wieder Puppen", sagt Denise-Verena Ladewig. "Und? Wie war es diesmal?" "Anstrengend", sagt Patricia. "Anstrengend", sagt Annika. Die Mädchen sehen müde aus. Die Kursleiterin schneidet den Mädchen die Chips ab, hält sie an den Minicomputer und liest die Daten ab. Auch Roswitha Schreiber ist wieder da. "Hat Mama viel geholfen?", fragt die Schulsozialarbeiterin Annika. Die schüttelt den Kopf: "Ich hab mich ganz allein gekümmert." Aber sie habe bestimmt wieder viel verkehrt gemacht. Am Sonntag zum Beispiel, da habe sie das Baby mit ins Auto genommen, die Familie war auf einem kleinen Ausflug. "Wir sind über Kopfsteinpflaster gefahren und es hat so geruckelt. Das war bestimmt schlecht", sagt Annika. Patricia hat kaum geschlafen. "Mein Baby hat immer nur geningelt."

Denise-Verena Ladewig notiert die Daten aus Chip und Computer in Formblätter, eine Art Mütterzeugnis. Die Mädchen schauen erwartungsvoll zu. Jetzt wird es ernst, jetzt geht es um Bestehen oder Versagen. Das Leben ist kein Ponyhof.

"Patricia", sagt Denise-Verena Ladewig. "Bis auf zwei kleine Fehler hast du alles richtig gemacht." Sie blickt auf das Ergebnisprotokoll der 16-Jährigen und sagt: "Am Sonnabend, 8.36 Uhr, hast du das Köpfchen nicht gehalten. Was war da?" "Ich habe gefrühstückt", sagt Patricia, "mit dem Baby im Arm." Das kennt die Kursleiterin schon: Baby schreit, man will selbst etwas essen, Köpfchen wird vergessen. Aber sie sagt: "Gratulation, ein Pflegelevel von 98 Prozent." Nahezu perfekt. Patricia sackt zusammen, das hat sie nicht erwartet.

Nervös rutscht Annika auf ihrem Stuhl hin und her, das kann sie doch nicht mehr toppen. Denise-Verena Ladewig nimmt das zweite Protokoll in die Hand: "Du hast 100 Prozent." Was? Annika glaubt es nicht. Denise-Verena Ladewig: "Es ist das beste Ergebnis, das wir je hatten." Tränen rinnen über Annikas Wangen.

Und jetzt ist sie sich ganz sicher: Zurzeit würde sie das mit einem Baby niemals packen. Erst kommt die Schule, dann ein Beruf. Auch Patricia sieht das heute Morgen anders als noch am Freitag. Sie sagt: "Kinder erst, wenn ich zwanzig bin."

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