Teil mehrerer Jugendbewegungen: Der Archivar der Jugendfrisuren

Im Archiv der Jugendkulturen leistet Klaus Farin seit 10 Jahren Pionierarbeit. Die Sammlung zieht Interessenten aus ganz Deutschland nach Kreuzberg. Ohne ehrenamtliches Engagement sähe das Archiv alt aus. Denn Regelförderung fehlt.

Manchmal möchte Klaus Farin sein Lebenswerk gerne hinter sich lassen. "Ich warte sehnsüchtig darauf, dass ich mich hier mal ein bisschen abnabeln kann", sagt er - und schmunzelt. Denn das von ihm gegründete Archiv der Jugendkulturen mit seiner europaweit einzigartigen Sammlung fordert bis auf weiteres seinen ganzen Einsatz.

Das Archiv der Jugendkulturen in der Kreuzberger Fidicinstr. 3 ist montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die Ausstellung "Keine Zukunft war gestern" eröffnet heute um 20 Uhr und läuft bis Mitte Juni (Mittwoch bis Sonntag, 15 bis 20 Uhr, Eintritt frei). Am morgigen Samstag geht die Jubiläumsfeier weiter: Konzert und Party ab 20.30 Uhr in der KvU, Kremmener Str. 9-11, in Prenzlauer Berg.

Der gebürtige Gelsenkirchener ist ein Brocken von einem Mann, dem die strubbelige Haarmatte ins unrasierte Gesicht fällt. Er trägt schwarz-weiß karierte Stoffschuhe, ein schwarzes Muskelshirt spannt über dem Bauch und gibt den Blick frei auf eine Tätowierung auf seinem rechten Oberarm. Rein optisch so ziemlich das Gegenteil dessen, was man sich unter einem Archivar vorstellt.

Auch das Archiv der Jugendkulturen ist kein gewöhnliche Sammlung von Dokumenten. In der einstigen Bockbrauerei an der Kreuzberger Fidicinstraße haben Farin und seine Mitstreiter Fanartikel, Filme, Musik, Literatur von und über Jugendkulturen gesammelt. Skinheads und Punks, Hiphopper und Jesus Freaks, Techno-Jünger und Gothics: Es gibt wohl keine Jugendszene, deren Treiben hier nicht ausführlich dokumentiert wäre.

In den hellen, großen Räumen von Farins Büro im ersten Stock reichen die voll beladenen Regale bis unter die Decke. Grünpflanzen ranken die Wände hoch, auf einem Foto reckt ein johlender Punk mit grünem Iro die Faust in den Himmel. Eine mit Buttons und Basecap verzierte Beethoven-Büste blickt auf einen Aktenschrank, der mit Roy-Lichtenstein-Motiven besprüht ist. Sonnenschein fällt durch ein Oberlicht auf den rot gebeizten Kiefernholztisch, wo Farin Filterkaffee serviert.

Der Journalist beschäftigte sich schon früh mit jugendlichen Lebenswelten. Mit 15 gab er eine Schülerzeitung heraus, mit 20 folgte das erste Buch. "In dem Alter interessiert man sich halt eher für Jugendkulturen als für die Grauen Panther", erklärt Farin. Da es zu dem Thema so gut wie kein öffentlich zugängliches Quellenmaterial gab, wollte er seine Sammlung von Flyern, "Fanzines" genannten Szenemagazinen und weiteren Devotionalien einer Universität spenden. Dabei stieß er aber auf kein sonderliches Interesse: "Die Nazisachen, die wollten alle haben, aber alles andere nicht. Da hab ichs gemacht, wie mans in Deutschland halt macht: Verein gründen, Kredit aufnehmen, Räume anmieten und ne Bibliothek aufmachen." Das war vor zehn Jahren - am 18. Mai 1998.

Die geliehenen 50.000 Mark waren schon nach anderthalb Jahren aufgebraucht. Glücklicherweise trudelten zu dieser Zeit die ersten Freiwilligen ein, durch deren Engagement sich die Arbeit weiterführen ließ.

Darauf ist das Archiv auch heute noch angewiesen. Nur acht der 28 Mitarbeiter haben eine Stelle und bekommen regelmäßig Geld. Alle anderen - Studierende, Werbeschaffende, Musiker, DJs, viele von ihnen selber Szeneleute - verfolgen hier ihre Interessen und Projekte ehrenamtlich. Sie organisieren Ausstellungen, bieten Workshops für Schulklassen an, betreiben Medienforschung. Musiker kommen ins Archiv, um in den mittlerweile weit mehr als 20.000 Fanzines zu stöbern; Lehrer und Sozialarbeiter, um herauszufinden, wie die Kids heutzutage ticken; Studierende, um Hausarbeiten zu schreiben. Zwei- oder dreimal im Jahr tauchen amerikanische Germanisten auf, um die kostbare Quellensammlung zu nutzen.

Sein Verein vernetze "das Who is Who der Jugendforschung", sagt Farin. Der dazu gehörende Verlag gibt eine Fachzeitschrift sowie sechs Bücher pro Jahr heraus. "Wir sind sicher der einzige Verlag dieser Größenordnung, der nur mit Ehrenamtlichen arbeitet", erzählt Farin mit einem leisen Anflug von Stolz.

In seinen eigenen Büchern, ganze 28 sind es bisher, verfolgt er einen Ansatz, der ebenso einleuchtend ist, wie er anfangs aufsehenerregend war. Statt vom Schreibtisch aus zu theoretisieren, holt Farin, dem wirklichkeitsfremde Stubenhocker im universitären Elfenbeinturm zuwider sind, die Jugendlichen da ab, wo sie sich befinden. Auf Rechtsrock-Konzerten kam er zum Beispiel mit Skinheads ins Gespräch. "Wenn man erst mal den Einstieg hat, dann wird man weitergereicht. Man kommt eigentlich in jede Szene rein, das ist nur ne Frage der Umgangsformen und der eigenen Neugierde." Sein Alter kommt dem 1958 geborenen Farin dabei auch heute nicht in die Quere: "Irgendwann bist du jenseits von Gut und Böse. Dann finden die Jugendlichen es eher gut, dass sich mal ein Erwachsener für sie interessiert."

Ein älterer Herr tritt an den Tisch. Werner Kließ ist freier Fernsehautor und recherchiert für eine Serie über Jugendkulturen. Eine Bibliothekarin mit der "Mötley Crüe"-Weste nimmt sich seiner an. Sie schleppt Ordner zum Kopierer, Mitarbeiter schwatzen miteinander und bedienen sich an der Küchenzeile, die direkt im Leseraum steht. Es herrscht nicht gerade Unordnung, aber eben auch nicht die heilige Stille, durch die sich Bibliotheken sonst für gewöhnlich auszeichnen.

Die Atmosphäre passt zu Farin. Selbst unkonventionell und gemütlich, spricht er mit ruhiger Stimme und beantwortet Fragen routiniert. Er wirkt wie einer, der viel gesehen hat und den nichts so schnell aus der Ruhe bringt. Erst als das Gespräch auf gängige Vorurteile über "die Jugend" kommt, mischt sich eine kaum wahrnehmbare Genervtheit in seinen Ton. "Es scheint irgendwie eine genetische Konstante zu sein, dass alte Männer die nächste Generation immer für schlechter halten als sich selbst", brummt er. Besonders bei den 68ern diagnostiziert er das. "Die halten sich für die Speerspitze von Jugend überhaupt. Dabei war das Rebellischste, was die meisten von denen je gemacht haben, Rolling Stones zu hören."

Zunehmende Gewalt, hemmungslose Konsumgeilheit und apolitischen Egozentrismus unter Jugendlichen hält er für Mythen. "Völliger Humbug ist, dass Jugendgewalt derzeit absolut explodiert. Jugendgewaltkriminalität geht bundesweit zurück - seit acht Jahren", sagt Farin. Auch das politische Engagement sei nicht weniger geworden.

Allerdings gerieten Jugendkulturen heute zunehmend unter den Druck der Konjunktur. In Vorbereitung auf den globalisierten Arbeitsmarkt würden Noten, Leistung, Berufsorientierung immer wichtiger, das Ausprobieren subkultureller Lebensstile träte dahinter zurück. "Jugendkultur ist heute eher ein Freizeitphänomen. Der Ansatz, für längere Zeit völlig auszusteigen, funktioniert für einen Großteil der Jugendlichen nicht mehr." Diese ökonomischen Zwänge haben gesellschaftliche Konsequenzen: "Das berühmte 68", ist sich Farin sicher, "hätte es unter den heutigen wirtschaftlichen Bedingungen nicht gegeben."

Geldsorgen kennt das Archiv selber zur Genüge. Die Miete für inzwischen 700 Quadratmeter verschlingt pro Monat 6.000 Euro. Das lässt sich mit den Bücherverkäufen gerade so decken, alles andere muss von wechselnden Trägern geschultert werden. Das Programm "Vielfalt tut gut" des Bundesfamilienministeriums ist der Hauptsponsor, mal gibt es EU-Mittel, ab und zu schießt der Berliner Migrationsbeauftragte was zu. Aber eine Regelförderung erhält das Archiv nicht. Besonders für die Mitarbeiter hat das Konsequenzen. Da zwischen dem Ende eines Projekts und der Bewilligung des nächsten meist einige Monate liegen, brechen immer wieder Leute weg. Farin selbst, der rund 40 Stunden pro Woche im Archiv arbeitet, verdient seinen Lebensunterhalt mit Vorträgen und Workshops in Akademien, Schulen, Knästen und Jugendclubs. Ein Drittel des Jahres ist er unterwegs. "Wenn Geld fehlt, muss ich auch immer wieder was reinbuttern. Würde ich morgen ausfallen, wäre das Archiv wohl tot."

Weder der Senat noch die Bezirke haben bisher Möglichkeiten gefunden, dem Archiv Räume zu überlassen oder zumindest die Kosten für die Leitung und die Bibliothekarin zu übernehmen. Anderswo weiß man die Einrichtung anscheinend besser zu schätzen. Aus Köln gebe es das Angebot, ein zweistöckiges Haus mietfrei zur Verfügung zu stellen, berichtet Farin.

Vor dem Archiv sitzt Gabi Sauermoser in der Maisonne und dreht sich eine Zigarette. Die lebhafte Steirerin mit dem grauen Dutt ist seit 2003 Sachbearbeiterin hier und spricht mit Verve und Begeisterung von ihrem Arbeitsplatz. "Wir erfinden alles neu", sagt sie, lacht und rückt ihre Brille mit dem roten Gestell zurecht. "Es ist chaotisch, aber es funktioniert." Auch für ihren Chef ist sie des Lobes voll. Ein "Netzwerker vom Feinsten" sei Farin, "von Kreativität durchdrungen", gar "das kreative Schlachtross". Dann fügt sie hinzu: "Vielleicht neigt er zu sehr dazu, die Dinge schon in Gestalt zu sehen, bevor die Finanzierung steht." Sie hält inne und zieht an ihrer Selbstgedrehten. "Das klingt jetzt alles sehr idealistisch, aber es ist schon hart an der Belastungsgrenze."

An diesem Wochenende aber feiern die Mitarbeiter. Pünktlich zum Jubiläum eröffnet am Freitag die Punk-Ausstellung "Keine Zukunft war gestern". Für den Abend hat sich PVC angekündigt, die erste Berliner Punkband und damit die erste Deutschlands überhaupt. Dass sie die engagieren konnten, sagt Farin, "da kann man schon stolz drauf sein".

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