Terrorgefahr in Westafrika: Angst vor dem Schulbesuch

In Burkina Faso sind aktuell mehr als 2.600 Schulen geschlossen. Nicht wegen Corona, sondern wegen Terrorgruppen im Land.

Ali, Mohamed und Saïdou Konfé

Ali, Mohamed und Saïdou Konfé würden gerne wieder in die Schule gehen Foto: Katrin Gänsler

OUAGADOUGOU/OUAHIGOUYA taz | Ali, Mohamed und Saïdou Konfé toben über einen Hinterhof in Rimkieta, einem Viertel im Nordwesten von Ouagadougou. Eigentlich sollten die drei Jungs an diesem Dienstagnachmittag die Schulbank drücken. Doch eine Schule haben sie seit zwei Jahren nicht mehr von innen gesehen.

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Damals flüchteten die drei sechs- und siebenjährigen Cousins mit ihren Familien aus der Provinz Soum im Norden von Burkina Faso in die Hauptstadtregion. Grund dafür waren schwere Angriffe von Dschihadisten, sagt ihre Großmutter Zarra Zawadogo.

Gemeinsam mit anderen Frauen und Kleinkindern sitzt sie im Schatten eines großen Baumes und beobachtet die Kinder. Der Platz ist begrenzt, die einzelnen Räume, in denen die große Familie lebt, sind klein. „30 Personen waren wir, als wir hier angekommen sind. Wir konnten nichts mitnehmen, keine Nahrungsmittel, keine Kleidung.“ Über die Details ihrer Flucht möchte sie nicht sprechen.

In Burkina Faso operieren in mehreren Landesteilen Terrorgruppen. Im Norden vor allem die Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime (JNIM), im Osten an der Grenze zu Niger der „Islamische Staat der größeren Sahara“ (EIGS), dazu Banditen in verschiedenen Regionen.

Nach Informationen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) haben mehr als 1,4 Millionen Menschen ihre Dörfer verlassen. Viele fliehen zunächst in die Provinzhauptstädte und manche von dort aus bis in die Hauptstadt. Für die Familie um Großmutter Zarra Zawadogo jedoch hat sich die Situation in Ouagadougou kaum verbessert. Vor allem an einen Schulbesuch ist für die Vertriebenen nicht zu denken.

Landkarte von Burkina Faso

Der sechsjährige Saïdou sagt: „Ich würde gerne mal zur Schule gehen.“ Seine Großmutter verdreht die Augen: „Die Kinder sind dabei, ihre Zukunft zu verlieren.“ Denn als Binnenflüchtlinge haben sie kaum eine Chance auf einen Schulplatz. Hier in Rimkieta gibt es in erreichbarer Nähe nicht einmal staatliche Schulen. Auch andere Vorstädte haben ähnliche Probleme. Noch schwieriger ist die Situation auf dem Land. Findet sich eine staatliche Schule, quetschen sich oft 60 bis 80 Kinder in eine Klasse.

Kein Geld, keine Schule

Privatschulen verlangen hingegen eine Gebühr. „Und die können wir uns nicht leisten. Ich habe kein Startkapital für den petit commerce“, sagt Zarra Zawadogo. Damit meint sie kleine Holzstände in Wohnvierteln, an denen Frauen Seife, Waschpulver, Tomaten oder Streichhölzer verkaufen. Die Gewinnspanne ist minimal. Die 65-Jährige geht trotzdem davon aus, dass ein solcher das Leben der Familie verbessern könnte.

Ali, Mohamed und Saïdou Konfé sind nicht die Einzigen, die zurzeit nicht zur Schule gehen können. Ende Oktober hat Bildungsminister Stanislas Ouaro bekannt gegeben, dass im laufenden Schuljahr 2.682 der rund 20.000 Schulen im Land geschlossen bleiben. Das sind rund 400 mehr als noch vor den großen Ferien. Die meisten liegen in den Regionen Zentrum-Nord und Sahel im Norden von Burkina Faso.

Zunehmend betroffen ist auch der Südwesten, wo in zwei Regionen ebenfalls gut 100 Schulen nicht mehr öffnen. Allerdings konnten 404 Bildungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften und Selbstverteidigungsmilizen wieder eröffnet werden. Das bedeute immerhin, dass 87.000 Schü­le­r*in­nen wieder regelmäßig Unterricht erhalten, so Ouaro.

Zarra Zawadogo sitzt in einem Innenhof

Zarra Zawadogo ist mit ihrer Großfamilie in die Hauptstadtregion geflüchtet Foto: Katrin Gänsler

Mehr als 300.000 Mädchen und Jungen stehen jedoch weiterhin vor verschlossenen Türen. Mitunter ist von 350.000 die Rede. Im Zentralsahel – er umfasst Burkina Faso sowie die Nachbarländer Mali und Niger – gingen nach Schätzungen des Norwegischen Flüchtlingsrates (NRC) vergangenes Jahr allein aus Sicherheitsgründen mehr als eine Dreiviertelmillion nicht zur Schule. Nicht eingerechnet sind zahlreiche temporäre Schließungen wegen der Coronapandemie. In Burkina Faso waren die Schulen vergangenes Jahr sechs Monate lang komplett geschlossen.

Aufstiegschance Terrorgruppe

Die Folgen sind gravierend für das westafrikanische Land. Nach Angaben der Weltbank konnten im Jahr 2018 nur knapp 40 Prozent der über 15-Jährigen lesen und schreiben. Da der Staat mit einer Bevölkerung von gut 21 Millionen sehr jung ist – das Durchschnittsalter liegt bei knapp 18 Jahren –, steigt der Druck auf den Arbeitsmarkt ständig. Im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen belegt er Platz 182 von 189. Ex­per­t*in­nen warnen seit Jahren davor, dass schlechte Bildungsbedingungen und die damit verbundene Perspektivlosigkeit auch dazu beitragen, dass sich Jugendliche von Terrorgruppen anwerben lassen. Diese sprechen gezielt Nachwuchs an und bieten ihm – so zynisch das klingt – Aufstiegschancen, die es in der Gesellschaft nicht gibt.

Dass Schulen geschlossen bleiben, liegt am Zusammenbruch der staatlichen Strukturen. Anders als im Nachbarland Mali gibt es aus Burkina Faso bisher keine Berichte darüber, dass Dschihadisten Dörfer besetzen und dort eine besonders rigide Form des Islams einführen. Doch die Angst vor Überfällen ist groß, und staatliche Sicherheitskräfte sind auf dem Land selten präsent. Zi­vi­lis­t*in­nen sind Angriffen deshalb schutzlos ausgeliefert.

Schulen werden gezielt für Anschläge ausgesucht. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat von 2017 bis 2020 insgesamt 126 Angriffe auf Schüler*innen, Leh­re­r*in­nen und Schulen in Burkina Faso dokumentiert. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher liegen. Es ist die Ausnahme, dass Täter gefasst werden und ihnen der Prozess gemacht wird. Das geschah allerdings im August, als zwei Mitglieder der burkinischen Gruppierung Ansarul Islam zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, weil sie 2018 einen Angriff auf eine Grundschule verübt hatten. Die Bewegung ist Teil der al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI).

Die Terrorgruppen schüren große Ängste bei Lehrerkräften. Eine Lehrerin, die in Mani unterrichtet, sagt zuerst ein Gespräch zu, dann aber wieder ab. Mani liegt in der Nähe der Hauptverkehrsstraße zwischen Kaya und Dori, wo es in den vergangenen Monaten immer wieder Überfälle gegeben hat. „Ich muss vorsichtig sein und äußere mich lieber nicht“, begründet sie die Absage und ergänzt: „Es gibt eine große Unsicherheit in der Schule. Man weiß nicht, was passiert.“

Unterricht per Radio

Manchmal nehmen Koranschulen Flüchtlingskinder auf. Anders als die sogenannten frankoarabischen Schulen, die eine Mischform aus religiöser und staatlicher Bildung sind, stehen dort aber weder Französisch noch Mathematik auf dem Stundenplan. Für das Kinderhilfswerk Unicef und das burkinische Bildungsministerium hat das Radio Notre Dame du Sahel, das zur katholischen Diözese von Ouahigouya gehört, deshalb ein Programm umgesetzt, um Kindern zumindest ein bisschen Unterricht zu bieten. „PER“ heißt es, was für Bildung über das Radio steht.

Verantwortlich dafür ist in Ouahigouya, Hauptstadt der Region Nord, die gut 128.000 Binnenvertriebene zählt, Priester Victor Ouedraogo. „Seit 2015 haben wir gesehen, dass die Terroristen alle Institutionen angreifen, die den Staat symbolisieren“, sagt er. Toleriert hätten die Terroristen nur Schulen, die den Koran lehren. Gerade für Kinder sei die Situation katastrophal, obwohl sie ein Recht auf Bildung hätten.

Deshalb haben Jour­na­lis­t*in­nen 144 Texte zu Mathematik, Französisch, Menschen- und Kinderrechten in mittlerweile sieben lokalen Sprachen eingesprochen. Zu hören sind sie landesweit bei mehr als 15 lokalen Radiosendern. Ouedraogo schätzt, dass damit 500.000 Schü­le­r*in­nen erreicht werden, die so nicht komplett den Anschluss verlieren.

Gegründet wurden zudem Zu­hö­rer*in­nen-Clubs. Zwei- bis dreimal pro Woche treffen sich bis zu 40 Kinder mit ihren Eltern sowie ei­nem*r Betreuer*in. Auch hier wird zusammen gehört und anschließend über den Inhalt gesprochen. Daran nehmen rund 2.000 Mädchen und Jungen teil. Ausgestattet sind die Clubs mit einem Radio und USB-Stick, auf dem alle Lehreinheiten gespeichert sind. Darüber hinaus gibt es Radiofamilien, die ebenfalls gemeinsam die Lektionen hören.

„Das ersetzt die Schule natürlich nicht“, sagt Priester Victor Ouedraogo, „aber die Kinder vergessen nicht, was sie einst gelernt haben. Die Rückkehr zur Schule wird für sie einfacher sein.“ Eins bleibt jedoch unklar: Niemand weiß, wann die 2.600 Schulen in Burkina Faso wieder öffnen.

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