Theater-Bilanz im Norden: Auf Klaras Krankenstation

Performance-Installation, Überforderungstheater und Puppenshow: ein subjektiver Blick auf besondere Momente des Bühnenjahrs 2015 im Norden.

Unvergesslich intensiv: „Söhne & Söhne“ vom Kollektiv Signa, hier im Bild: Signa Köstler. Foto: Arthur Köstler

BRAUNSCHWEIG taz | Für mich war es der intensivste Moment im vergangenen Theaterjahr: die Krankenstation von Schwester Klara. Da lagen wir in schmiedeeisernen Fünfzigerjahre-Betten und warteten auf das Ende. Schwester Klara, die in ihrem taillierten Schwestern-Dress aussah wie aus einer „Ma Men“-Folge entsprungen, ging von Bett zu Bett und sprach mit jedem Patienten über den Tod. Ob ich schon wisse, wie ich mir meine Beerdigung vorstelle, hauchte mir die junge Frau ins Ohr. Währenddessen weinte im Bett neben mir ein älterer Mann – Klara hatte ihn gefragt, wann er das letzte Mal einen geliebten Menschen verloren habe.

Grenzüberschreitung

Die Performance-Gruppe Signa ist bekannt dafür, Grenzen zu überschreiten. Und auch wenn die Produktion „Söhne & Söhne“ am Hamburger Schauspielhaus nicht ihre stärkste ist, die Methode bleibt einzigartig. Keine Geschichten erzählt Signa auf der Bühne, stattdessen werden die Besucher zum Teil einer fiktiven Realität. Und jeder nimmt in den mehrstündigen Performances irgendwann die Theaterrealität als echt hin – und in der Erinnerung bleibt eine wirkliche Erfahrung.

Eine Woche später sitze ich zu Hause auf dem Bett. Um 21.47 Uhr werde ich meinen ersten Auftrag von „Söhne & Söhne“ erhalten, stand auf dem kleinen, mit Schreibmaschine geschriebenen Zettel, den ich als neues Mitglied der weltweiten Psycho-Sekte erhalten habe. Einer Sekte, die beim genaueren Hinsehen unserem Wirtschaftssystem nicht unähnlich ist: Alles dreht sich um Optimierung der eigenen Leistungskraft, bis hin zum Tod, auch ohne Schwester Klara.

Avantgarde mit Patina

Im Vergleich dazu hat der ähnlich zeitintensive Theaterzauber Frank Castorfs fast schon wieder Patina angesetzt. Bei der Premiere von Hans Henny Jahnns „Pastor Ephraim Magnus“, ebenfalls im Deutschen Schauspielhaus, sitzen wir brav im Zuschauerraum und beobachten das altbekannte Szenario. Eine labyrinthartige, drehbare Installation hat der Bühnenbildner Aleksandar Denić auf die Bühne gebaut: verschlungene Gänge, irgendwo zwischen einem bürgerlichen Herrenhaus, einer barocken Kirche und einer Folterkammer. Dazwischen irren Menschen umher, wie immer bei Castorf auf Sinnsuche, begleitet von einem Kamera-Team. Was wir nicht sehen können, zeigen die Leinwände – fünf Stunden lang.

Fünf Stunden, die wie Signa überfordern, aber wenig zurücklassen außer einem Pastor, der ausbrechen will aus einem verlogenen, bürgerlichen Leben und sich sabbernd und schnaufend auf den Weg macht durch ein Jahrhundert, zwischen Nazi-Fahnen und Burschenschaften, typisch Castorf eben, immer noch faszinierend, aber faszinierend wie ein alter Hitchcock-Film – die Avantgarde von einst ist alt geworden.

Behäbigkeit ausgetrieben

Jede Behäbigkeit aus dem Stadttheaterbetrieb ausgetrieben hat dagegen dieses Jahr in Braunschweig die junge polnische Regisseurin Marta Górnicka. Bei der Premiere ihrer Brecht-Adaption „M(other) Courage“ hört man raunen, sie habe auf Durchzug gestellt, wenn Dramaturgen sie über die Notwendigkeiten eines Theaters aufklären wollten, das nicht über die Stränge schlagen soll. Oder noch schlimmer: Sie habe auf Sprachschwierigkeiten verwiesen und einfach weitergemacht, genau so, wie sie es will, ohne Kompromisse und Zugeständnisse an den Betrieb.

Herausgekommen ist ein Chor-Abend, der weniger als eine Stunde dauert, es aber in sich hat. 20 raunende und wispernde Menschen stehen auf der Bühne: deutsche Befindlichkeiten, Pegida-Gesänge und Gegendemos. Górnicka hat das Deutschland des Jahres 2015 aufgesaugt und in einen Klangteppich verwandelt. Jetzt steht sie da, im Scheinwerferlicht im Zuschauerraum, und dirigiert die Chöre, die sie nicht verstehen kann. Englische Übertitel, nur für sie, weisen ihr den Weg in diesem kleinen Theaterwunder, das die ansonsten wohltemperierte Braunschweiger Theaterwelt alt aussehen lässt.

Narzisstischer Allende

Wie auch das Festival Theaterformen, das zum ersten Mal in diesem Jahr unter der neuen Leitung von Martine Dennewald in Hannover stattfand. Ihr gelang es, vor allem mit einer starken Eröffnungsinszenierung zu punkten. Mitten in der Griechenlandkrise zeigten die Theaterformen die Geschichte des chilenischen Präsidenten Salvador Allende aus einer neuen Perspektive.

Aus dem linken Idol wird dabei ein Narzisst im Präsidentenpalast, einer, der sich an die eigene Ideologie klammert und darüber das Volk vergisst, der den Putsch billigend in Kauf nimmt für seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Am Ende krabbelt er auf der Bühne hinter seinem Schreibtisch herum, bevor sich das Bild des Präsidentenpalastes rot färbt – und die Zuschauer entlassen werden in die Gegenwart, in der gerade auch zwei Politiker mitten in Europa mit der Zukunft ihres Landes Poker spielen: Mehr als einmal fällt im Foyer der Griechenland-Vergleich.

Bessere Zukunft

Das Deutsche Schauspielhaus hat zum Jahresende noch einen weiteren Moment jenseits der gepflegten Kunst-Produktion der Konkurrenz geschaffen. Eine riesige Dampflokomotive bricht durch die Betonwand des Malersaals. Mit Aljoscha Stadelmann besteigt ein bärtiger Jahrhundert-Lokführer diesen Fortschrittsexpress durch die Zeiten. Mit Günther Anders’ „Antiquiertheit des Menschen“ haben der Dramaturg Christian Tschirner und die Puppen-Performerin Suse Wächter ein sperriges zweibändiges Werk der Philosophie-Geschichte ausgegraben – mit beängstigenden Parallelen zur Gegenwart.

Der Mensch ist unfähig, seine Maschinen zu beherrschen, geradezu antiquiert im Vergleich zu den von ihm geschaffenen, perfekten künstlichen Geschöpfen. Ein sprechendes Skelett ermahnt auf der Bühne einen Kinderchor, an die Zukunft zu denken.

Die singen zum Schluss brav vom Waleretten und einer besseren Welt – lauter gute Vorsätze zum Jahresende –, während die Lokomotive des Fortschritts ungebremst gen 2016 weiterrast.

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