Theaterstück „Für immer ganz oben“: Haare in der Achselhöhle

Pubertätsnöte am Pool: Abdullah Kenan Karaca inszeniert die Erzählung „Für immer ganz oben“ von David Foster Wallace in München.

Kinder mit Badekappen und Tauscherbrillen im Schwimmbecken

Ein 13-Jähriger durchlebt auf einen Sprungturm die Ängste des Erwachsenwerdens Foto: Andrea Huber

„Bloß nicht zu warm anziehen“, lautet die Devise für diesen Theaterabend am Pool. Am Spielort in der Schwimmhalle des Müller’schen Volksbads ist die Luft 35 Grad warm und feucht. Eine Zuschauerin hat die nackten Füße auf den mit Kunstrasen dekorierten Beckenrand gelegt und wedelt sich mit einem Fächer angestrengt Luft zu.

Ein Schwimmbad ist ohne Zweifel der naheliegende Ort, um David Foster Wallaces Kurzgeschichte „Für immer ganz oben“ als Singspiel zu inszenieren. Denn diese nur zwölf Seiten lange Coming-of-Age-Geschichte, in der sich ein 13-jähriger Junge auf einen Sprungturm wagt und dabei die Ängste vor dem Erwachsenwerden en miniature durchlebt, spielt in einem Freibad. Erschienen ist sie 1999 im Erzählungsband „Kurze Interviews mit fiesen Männern“, neun Jahre später nahm sich David Foster Wallace das Leben.

In diesem unfassbar dichten Text befinden wir uns im Kopf des Jungen, der seinen 13. Geburtstag als Explosion der Sinneseindrücke erlebt. Es ist ein fulminanter Text über die Metamorphose vom Kind zum Mann, die massiven Veränderungen in Körper und Seele und das mühsame Finden einer eigenen Identität. Ein Text, der eine extreme Nähe zulässt: Wir spüren fast selbst die glitschigen Sprossen des Sprungsturms, die der Junge erklimmen muss. Er registriert die körperliche Veränderung und durchläuft das volle Programm von Teenage-Angst, feuchte Träume inklusive: „Du hast jetzt sieben Haare in deiner linken Achselhöhle, zwölf in deiner rechten. In deinem Intimbereich sind mehr gewellte Haare als du zählen kannst.“

Ebendiese Erzählung hat sich Abdullah Kenan Karaca, Hausregisseur des Volkstheaters München, für seine Aufführung im Rahmen der Münchner Biennale ausgesucht. Das von Hans Werner Henze gegründete Festival für neues Musiktheater wird seit 2016 von den beiden Komponisten Daniel Ott und Manos Tsangaris geleitet.

A und O dröhnen unerträglich

Mit der Wahl des Ortes ist Karaca ein Coup gelungen, denn das Volksbad ist keine gekachelte, nüchterne Badeanstalt, sondern ein Jugendstil-Kunstwerk mit einer monumentalen Kuppel, die einen als Zuschauer allein schon wegen des imposanten Raumes beeindruckt. In dieser Kulisse platziert der Regisseur nun seinen Hauptdarsteller zu Beginn auf einer Empore über dem Schwimmbecken, also über den Köpfen der anderen Darsteller, ganz so, wie es David Foster Wallace mit dem Titel „Für immer ganz oben“ suggeriert.

Im Wasser plantscht eine Jungsschar in Gestalt des Münchner Knabenchors. Am Beckenrand beobachten die Eltern das Treiben am Pool, dargestellt von Oliver Möller und Mara Widmann als Klischeepaar: sie als quietschige Blondine im rosafarbenen Bademantel, den sie für einen Sprung ins Wasser nonchalant abstreift, er als schwarzhaariger Macker, der sie vor allem deshalb geheiratet hat, weil sie mit ihrer Topfigur nach der Geburt des ersten Kinds nicht aus dem Leim zu gehen drohte.

Die Komponistin Brigitte Muntendorf beschallt das feuchte Szenario mit einer Geräuschkulisse, in der man schwerlich eine Melodie zu erkennen vermag und die von einer Band mit Klavier, Synthesizer, E-Gitarre, Cello und Schlagwerk interpretiert wird. Statt eines Textes singen die Jungen jedoch nur Silben, lassen Vokale wie A und O bis ins Unerträgliche anschwellen oder intonieren „Falling into the blue, into the white splash!“

Seine körperliche Verletzlichkeit

Das Bühnenbild ist beeindruckend, der Klang auch, keine Frage. Atmosphärisch und optisch ist diese 50-minütige Inszenierung durchaus ansprechend. Der kristallklare Klang der Stimmen des Knabenchors bewirkt eine sakrale Atmosphäre wie in einer Kirche. Auch die Aufreihung der schmächtigen Jungskörper in Badehosen versinnbildlicht eben jene körperliche Verletzlichkeit, die die Hauptfigur im verwirrenden Übergang von Kindheit zu Adoleszenz so schmerzlich empfindet.

Schade allein, dass von der Sprache der Erzählung nicht mehr viel übrig bleibt. Die Essenz der Geschichte wird in dieser Inszenierung allein auf einer rein sinnlichen Ebene erfahrbar. Unverständlich bleibt zudem, wieso Karaca einem klischeehaften Schlagabtausch zwischen den Eltern so viel Raum gibt. Mutter und Vater reden lange gebetsmühlenartig auf den Sohn ein, das kommt ziemlich seifenoperhaft daher.

Das Publikum ist dennoch sichtlich angetan. Mit lautem Applaus quittieren die lediglich 120 Zuschauer den Abend – mehr passen nicht in die Schwimmhalle. Am Morgen danach werden hier übrigens wie üblich wieder die Schwimmer ihre Bahnen ziehen.

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