Theaterstück von Milo Rau: „Theater ist ein Marionettenspiel“

Der Regisseur will scheinbar die Geschichte des Mörders Marc Dutroux erzählen. Doch er zieht auch eine Linie zur Kolonialgeschichte Belgiens.

Kinder spielen die Unabhängigkeit des Kongo 1960

Starker Auftritt: Kinder spielen, wie der Kongo sich von den Kolonialisten befreite Foto: Phile Deprez

Sieben Kinder zwischen 8 und 13 Jahren stellen auf der Bühne das Casting nach, das sie zu dieser Inszenierung gebracht hat: Elle Liza gibt eine Kostprobe eines John-Lennon-Songs, Winne tanzt ein paar Takte zu Erik Satie, Pepijn begleitet am Klavier. Könige wollen sie spielen, Helden, Polizisten. Auf keinen Fall: einen Mörder, einen Kinderschänder.

Aber im Theater hat der Spielleiter das Sagen – und der hält ein Foto von Marc Dutroux hoch. „Wisst ihr, wer das ist?“ fragt der (erwachsene) Schauspieler Peter Seynaeve in der Rolle des Regisseurs. Klar, das weiß in Belgien doch jeder! Die Geschichte des Mörders gibt nun den Inhalt vor für die fünf Übungen, die die Kinder auf der Bühne absolvieren – die „Five Easy Pieces“, so betitelt nach Strawinskys Klavieretüden.

In Belgien war die Empörung groß, als bekannt wurde, dass der Schweizer Dokumentartheatermacher Milo Rau die Dutroux-Geschichte mit Kindern auf die Bühne bringt. Die Mordserie der 1990er ist hier noch immer ein Schandfleck, der für die Zerrissenheit des Landes, eine miserable Verbrechensaufklärung und eine korrupte Elite steht.

Bei der Brüsseler Uraufführung im Mai löste sich die Anspannung dann in Begeisterungsstürme auf – denn natürlich ist Rau viel zu klug, um schlicht Gewaltexzesse abzubilden oder Kinder allzu plump auszustellen. Ob bei seinen Arbeiten zum Genozid in Ruanda, zu den politischen Zuständen in Russland oder beim „Kongo Tribunal“: An Reflexionsebenen hat es Rau nie fehlen lassen.

Wie wird man eine Figur?

„Five Easy Pieces“ gastierte nun an den Sophiensaelen, einem der wichtigen Berliner Off-Theater, bevor die Produktion in weitere 30 (!) Länder reist. Rau will viel in dieser Inszenierung – vielleicht zu viel. Da wäre zunächst die politisch-historische Dimension: Weil die Familie Dutroux in den 1950ern in Belgisch-Kongo lebte, zieht der Regisseur die Verbindung zur Kolonialgeschichte Belgiens. Die Kinder schlüpfen in die Szene, in der 1960 der Kongo seine Unabhängigkeit erklärt. Diese dokumentarischen Sequenzen verlaufen immer gleich: Ein Video zeigt professionelle Schauspieler, die den historischen Moment nachspielen, also „reenacten“, die Kinder kopieren die Darstellung auf die Bühne.

Der Ausflug in den Kongo wird jedoch nicht fortgeführt – wie überhaupt das ganze Unterfangen, den Fall Dutroux als belgische Nationalkrise zu erzählen, früh stecken bleibt. Denn Rau will darüber hinaus „mit Kindern einige der Grundfragen von Performance bearbeiten“, wie er vorab sagte. Wie erzeugt man Gefühle auf der Bühne? Im Film? Wie wird man eine Figur? Was ist Theater? Jedes dieser Themen wäre einen Abend wert. Auf die letzte Frage antwortet Polly: „Theater ist ein Marionettenspiel – nur eben mit Menschen.“ Einer zieht die Fäden. Dieses spürbare Ausgeliefertsein der Kinder erzeugt die bedrückendsten Szenen des Abends. Wenn Peter Seynaeve etwa bei Rachel nachhakt, ob sie wirklich alles fürs Theater tun würde. Oder wenn er Polly befragt, ob sie bereit wäre, auf der Bühne jemanden zu küssen. „Wenn es das Stück verlangt“, antwortet die betont professio­nell.

Und während man sich vergegenwärtigt, dass ein Kuss zwischen einem erwachsenen Mann und einem Mädchen auf der Bühne eben doch nicht nur Theater wäre, sondern ein tatsächlicher Übergriff (dass Theater mit Kindern also Realität erzeugt), beginnt die Übung zur „Unterwerfung“: Rachel spielt die entführte Sabine, die im Dutroux-Verlies sitzt und einen Brief an ihre Eltern verfasst. Alle „Übungen“ werden gefilmt und projiziert.

Vor die nackte Brust

Für die Rolle soll sie sich ausziehen, Seynaeve drängt sie, „so wie in der Probe!“, Rachel stockt, zieht ihren Pulli aus, schließlich die Hose, zögert wieder. Als sie ihr Leibchen über den Kopf streift und die Knie vor die nackte Brust zieht, verlässt eine Zuschauerin den Saal. Wird hier die Grenze überschritten? Ist Rachels Scham gespielt – und macht das einen Unterschied? Braucht es diese Szene wirklich, um „grundsätzliche Fragen über inszenatorische Gewalt“ zu stellen?

Rau streift viele spannende Motive, hechtet aber immer gleich zum nächsten weiter. Ob in jedem Kind eine amoralische Grausamkeit liegt, ob ein Stück Dutroux in uns allen wohnt, reißt der kleine Willem nur an, wenn er erzählt, dass er gern Insekten verbrennt. Und der Fall Dutroux scheint dem Regisseur eher Aufhänger für das übergreifende Sujet Schauspielen zu sein.

Während man selbst am Ende nicht wirklich weiß, wohin einen der Abend führen wollte – die Kinder jedenfalls wissen, was sie wollen: spielen! Und dabei sind sie eine echte Wucht, sieben ganz unverwechselbare Typen.

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