Thema Missbrauch auf dem Kirchentag: Nicht darüber reden, sondern streiten

Auf den überfüllten Veranstaltungen zum Thema Missbrauch wird deutlich: Der Skandal hat einiges freigesetzt. Und der Jubel ist laut, wird die Abschaffung des Zölibats gefordert.

Die Veranstaltungen zum Thema Missbrauch sind enorm gut besucht. Bild: thomas dashuber

MÜNCHEN taz | Plötzlich taucht ein Mann vor der Bühne auf und zieht sofort alle Fernsehkameras auf sich. "Wir wollen uns selbst vertreten", ruft er, "es ist alles ein Lügentheater. Nicht Sie haben das Schweigen gebrochen, sondern die Opfer."

Oben auf der Bühne steht Klaus Mertes, der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, der durch seine offene Reaktion auf Missbrauchsvorwürfe an seiner Schule die bundesweite Diskussion ausgelöst hat. Das Publikum möchte lieber ihn hören. Und der Beauftragte der katholischen Bischöfe für die Missbrauchsfälle, Bischof Stephan Ackermann, wird die Szene später geschickt nutzen, um das Gespräch wieder von den politischen Forderungen an die katholische Kirche wegzulenken. "Natürlich müssen wir auch darüber sprechen, aber ich habe gerade das Gefühl, dass die Opfer aus dem Blick geraten."

Immer wieder entsteht der Eindruck, Ackermann wolle ausweichen oder beschwichtigen. Das Publikum quittiert dies mit Pfiffen. Umso lauter ist der Jubel, wenn mal wieder die Abschaffung des Zölibats gefordert wird, die Zulassung von Frauen zur Priesterschaft oder die Akzeptanz von Homosexualität. Die Missbrauchsfälle haben offensichtlich etwas freigesetzt.

Die Veranstaltungen zum Thema Missbrauch sind auf dem Kirchentag enorm gut besucht; 1.500, zuweilen sogar 6.000 Menschen drängeln sich da. Doch wenn auf dem Podium Änderungen gefordert werden, viele klatschen und eine Bewegung durch den Raum geht, sieht man zwischendrin viele Besucher, die ihre Stirn runzeln oder starr den Mund zusammenpressen.

Gerade von jemandem wie Wunibald Müller, dem Leiter des Recollectio-Hauses, erwartet man Antworten auf die Fragen, wie auch Geistliche moralisch so versagen konnten und was von kirchlicher Seite nun zu tun ist. In seinem Recollectio-Haus, ebenso wie im evangelischen Pendant, dem Haus Respiratio, werden Geistliche betreut, die nicht mehr weiterwissen, die ein Burn-out haben. Müller sagt: "Männer und Frauen, die in der Kirche arbeiten, sind nicht weniger anfällig für psychische Schäden als andere Menschen." Man müsse lernen, die eigene Begrenztheit anzuerkennen und manchmal auch die eigene Erbärmlichkeit.

Für Aussagen, die an verbreiteten Ideologien kratzen, gibt es besonders viel Applaus. Wie etwa die des Respiratio-Leiters Hans-Friedrich Stängle, die "Ideologie des bedürfnislosen Helfers" sei für so manches Unheil in der Kirche verantwortlich. Durch die Verleugnung des Angewiesenseins auf andere entstehe eine ganze Palette dysfunktionaler Beziehungen. Es gehe also darum, sich die eigene Bedürftigkeit einzugestehen.

Auch der Benediktinermönch Anselm Grün hält das überhöhte Ideal eines Priesters für eine Ursache sexuellen Missbrauchs. Den Zölibat macht er nicht explizit dafür verantwortlich, sagt aber: "Verdrängte Sexualität sucht eben immer nach einem Ausweg." Es seien gerade die verdrängten Bedürfnisse, die ausgelebt werden. Sein Plädoyer für eine Wahl der Pfarrer zwischen zölibatärem und ehelichem Leben erhält enorme Zustimmung vom Publikum. Für ihn sei die Ehelosigkeit der richtige Weg gewesen. "Aber ich erlebe viele Priester, die daran gescheitert sind und bei denen ich sagen würde, es wäre gut, wenn sie weiter Priester sind."

Eine ganz andere Realität zeigt eine Podiumsdiskussion mit denjenigen, die praktisch zum Thema Missbrauch arbeiten. Im Gespräch mit Sozialarbeiterinnen, Traumatherapeuten und Richterinnen geht es ganz konkret um die Frage, wie man die Opfer besser betreuen kann. Es fehlen finanzielle Mittel, es fehlen Therapieplätze, und die Prävention kommt zu kurz, wenn die Kapazitäten nicht einmal für die akuten Fälle reichen. "Die Gesellschaft versagt auch heute noch grundlegend beim Thema sexualisierte Gewalt", sagt Ursula Enders von der Opferhilfe Zartbitter. Es gehe doch nur um eine "ganz einfache Versorgung", wie sie jedes Unfallopfer in Deutschland erhalte.

Für Institutionen, in denen Kinder betreut werden, sei es sinnvoll, einen Verhaltenskodex für den Umgang mit diesen festzulegen. Denn dann merke man eher, wenn sich das Verhalten eines Mitarbeiters bereits in einer Grauzone befinde. Viele, die in kirchlichen Institutionen missbraucht worden seien, wollten gerade nicht deren Beratungsangebote nutzen. Deshalb sagte Enders: "Ich fände es gut, wenn die Kirche unsere Arbeit unterstützen würde."

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