Theorie versus Empirie: Politische Vermessung der Welt

Welche Frage ist wichtiger: Wie ist die Welt oder wie soll sie sein? Darüber streiten sich Politikwissenschaftler*innen an der Uni Leipzig.

Frau von hinten mit Aufblasglobus auf dem Kopf

Wie hält es die Uni Leipzig mit der Welt? Foto: dpa

LEIPZIG taz | Die Kartons sind noch nicht ausgepackt, seine Stimme hallt von den nackten Wänden wider. Der Neue, Professor Ireneusz Pawel Karolewski, hat sich noch gar nicht richtig einrichten können, gerade erst ist er hier im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Universität Leipzig angekommen. „Das ist noch eine Baustelle“, entschuldigt er sich.

Der karge Raum ist Teil des Leipziger Instituts für Politikwissenschaft, Karolewski ist seit Anfang des Monats hier Professor für Politische Theorie und – ganz neu – für Demokratieforschung. Und doch liefert er in Leipzig schon Stoff für einen heftigen Streit um die dortige Politikwissenschaft und die Deutungshoheit der Lehre.

Die Politische Theorie ist eine der drei Grundpfeiler der Politikwissenschaft – neben der Vergleichenden Regierungslehre und den Internationalen Beziehungen. Fehlt eine dieser drei Säulen, ist das Studium unvollständig. Manche würden sogar sagen: Ohne die Politische Theorie fehlt der Politikwissenschaft das selbstkritische Korrektiv. Beobachter*innen sehen nun genau das in Leipzig eintreten: eine Amputation der Politischen Wissenschaften. Die spontane Reaktion in den Unifluren lautet: „Die Politische Theorie in Leipzig ist tot.“ Manche sagen auch: Die Theorie in den Sozialwissenschaften steht in ganz Deutschland unter Druck.

Das findet zum Beispiel der Hamburger Politikprofessor Peter Niesen, Sprecher der Sektion Politische Theorie in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. „Ich habe keine Kritik an der Besetzungsentscheidung, das ist mir wichtig zu betonen“, sagt er: „Wohl aber an den doppelten Anforderungen der Ausschreibung, die in der Tendenz zu einer Entprofessionalisierung führen können, weil die Stelleninhaberinnen sich weder in der Lehre noch in der Forschung vorrangig der Politischen Theorie widmen können.“

Positivismusstreit schon seit den 1960er Jahren

Das Problem beginnt bereits mit dem Titel: „Politische Theorie und Demokratieforschung“ soll einen Konflikt vereinen, der als „Positivismusstreit“ seit den 1960er Jahren erbittert geführt wird. Dabei stehen Empiriker*innen den Theoretiker*innen gegenüber. Erstere halten es für möglich, Gesellschaft so messen und erklären zu können wie Naturwissenschaften die Natur. Sie sehen nur das als „Wissen“ an, was sie wahrnehmen und überprüfen können. Die Empirie will so Probleme erklären und Lösungsansätze liefern.

Ihnen gegenüber stehen die Theoretiker*innen. Sie werfen den Positivist*innen vor, sich die Welt messbar zu machen, und sehen dabei wichtige Aspekte der Gesellschaft, die sich nicht in Statistiken oder Interviews ausdrücken lassen, ausgeklammert. Oder einfach ausgedrückt: Während sich die Empirie damit beschäftigt, was ist, fragt sich die Theorie, was sein soll.

Eigentlich sind beide Seiten Kernbestandteile der Politischen- und Sozialwissenschaften. Doch der Hamburger Niesen sieht die Theorie bedrängt, wenn ihr zunehmend die Empirie aufgeladen wird. Seit der Nachkriegszeit sei es Konsens gewesen, dass an jedem Politikinstitut mindestens eine Person nur für die Theorie zuständig ist. In der neuen empirischen Anforderung wie nun in Leipzig – aber auch in Stuttgart oder Konstanz – sieht der Professor eine Verschiebung der Politikwissenschaft hin zur Empirie. Er sagt: „Die sich spaltende Soziologie ist da ein aus meiner Sicht fragwürdiges Vorbild.“

Damit meint er, dass vor zwei Jahren eine Gruppe Empiriker*innen die „Akademie für Soziologie“ gegründet hat – mit Schwerpunkt in quantitativer Sozialforschung, dem statistikdominierten und drittmittelstarken Teil der Soziologie. Vorsitzender ist der Leipziger Sozialforscher Holger Lengfeld, der Gründungsaufruf stammt von seinem Institutskollegen Roger Berger, der Vorsitzender der Berufungskommission der Leipziger Theorieprofessur war.

Karolewski, der neue Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung, sieht kein Problem in der Doppelbeschreibung seines Jobs. In Sakko und weißen Sneakern lehnt er in seinem Bürostuhl und sagt: „Theorie muss sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit messen. Sie muss immer politische Anwendung finden oder anwendungsfähig sein.“ So weit, so unstrittig. Doch er sagt auch: „Zur Politischen Theorie gehört automatisch auch die Empirie, sonst ist es politische Philosophie.“ Überhaupt sehe er die Politikwissenschaft den Sozialwissenschaften verpflichtet, nicht der Philosophie: „Philosophie beschäftigt sich mit Philosophen. Das kann faszinierend sein, hat aber nicht viel mit der politischen Wirklichkeit zu tun.“

„Politikwissenschaft ist ein empirisches Fach“

Natürlich sei es wichtig, sich mit Platon und anderen Grundlagentheoretikern zu beschäftigen. „Aber das Ergebnis der Theorie muss sich mit politischer Wirklichkeit beschäftigen. Deswegen sehe ich in der Professurbezeichnung auch keinen Widerspruch: Eigentlich sollte das überall so sein.“ Und er fügt hinzu: „Die Politikwissenschaft ist ein empirisches Fach.“

„Es ist ein Witz, das Ganze noch als Theorie zu bezeichnen“, sagt Nicolas Laible vom Fachschaftsrat, der Studierendenvertretung des Instituts. „Schon in der Ausschreibung der Professur tauchte das Wort ‚Theorie‘ genau einmal auf, und zwar in der Überschrift. Danach ging es nur noch um Empirie.“ Dass die Berufungskommission unter vielen qualifizierten Kandidat*innen mit Theorieschwerpunkt ausgerechnet den auswählen würde, der die Theorie eher als Instrument für die Empirie begreift denn als Sinn an sich, hätten die Studierenden gern verhindert. Dass sie ihre Interessen in dem Verfahren nicht vertreten sahen, formulierten sie in einem Beschwerdebrief ans Rektorat.

­Laible sagt: „Durch diese Berufung ist die politische Theorie in Leipzig tot.“ Zwar sei Karolewski für die Einführung in die klassische Ideengeschichte – Platon, Aristoteles, Rousseau – sicherlich geeignet. „Aber er ist eigentlich ein empirisch-qualitativer Forscher mit Schwerpunkt Osteuropa.“

Konservativer, weißer Männerkonsens

Es gab Überlegungen, die Politische Theorie ganz abzuschaffen. „Ich glaube, es fehlt etwas“, sagt auch die Politikstudentin Nele Scholz. Sie saß als Studierendenvertreterin in der Berufungskommission, darf aber keine Details nennen, das Verfahren unterliegt der Schweigepflicht. Das Ergebnis sieht sie kritisch: „Es fehlt die Freiheit, nicht an empirische Zwänge gebunden zu sein.“ Karolewski habe den Fokus auf Ideengeschichte und den politisch-philosophischen Zugang nicht.

„Die Arbeitsteilung an den Instituten hat einen Sinn“, sagt Dieter Koop. Der grauhaarige Mann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut, sein Büro liegt nur einen Gang vom Raum des neuen Professors entfernt. Doch die beiden scheint mehr als nur dieser Gang zu trennen. „Was Karolewski macht, ist theoriegeleitete Empirie, keine politische Theorie“, sagt Koop. Auch er war Teil der Berufungskommission. „Uns wurde signalisiert, dass das Rektorat die Empirie in der Professur sehen will. Die völlig freie Hand hatten wir da nicht“, sagt er. Details kann auch er nicht nennen.

Aber er sagt: „Es gab zwischendurch die Überlegung, die Professur für Politische Theorie ganz abzuschaffen. Das war der Druck, unter dem die Ausschreibung auch stand.“ In seinem Büro sagt Karolewski, die Kritik an der veränderten Professur sei bei ihm noch nicht angekommen. Er freut sich auf seinen neuen Job. Immerhin: Seine Mitarbeitenden bieten Seminare zu Denker*innen außerhalb seines konservativen, weiß-europäischen Männerkanons an.

Auch der Kritik an seinem Vorlesungsplan begegnet Karolewski mit Zugeständnissen: Nachträglich hat er Judith Butler ins Programm aufgenommen – als einzige weibliche Theoretikerin. „Ich habe gesehen, dass das tatsächlich eine Schwachstelle war.“ Wie viel Theoriedebatte Karolewski am Ende zulässt, wird sich zeigen. Das Semester hat gerade erst begonnen.

Transparenzhinweis: Die Autorin studiert selbst Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

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