Therapeut über Folter-Überlebende: „Sie haben noch einen Lebenswillen“

Der Psychotherapeut Michael Brune arbeitet mit Menschen, die Folter erlitten haben. Ein Gespräch über dunkle Schrecken und leuchtende Kraft.

Auf dem Foto sind angekettete Füße zu sehen

Folter wirkt vor allem psychologisch, sagt der Therapeut Michael Brune Foto: dpa

taz am wochenende: Herr Brune, als Laie stellt man sich Folteropfer als besonders fragile Menschen vor. Wie viel Scheu hatten Sie, als Sie begonnen haben, mit ihnen zu arbeiten?

Michael Brune: Angst, dass mich das Thema überwältigen würde, hatte ich zu Beginn. Ich habe im Lauf der Jahre aber gesehen, dass die meisten Folter­überlebenden sehr starke Menschen sind. Man sitzt Menschen gegenüber, von denen man denkt: Wenn ich das durchgemacht hätte, dann könnte ich nicht eine Stunde lang ruhig auf meinem Stuhl sitzen und von den erlebten Schrecken erzählen. Sie sind schwer verletzt, aber die Kraft, die sie haben, leuchtet durch.

Können Sie diese Kraft beschreiben?

Sie haben noch einen Lebenswillen, weil sie etwas überwinden wollen, es sind seelisch schwer verletzte Menschen, die sich wieder im Leben zurechtfinden wollen. Diese Kraft spürt man und findet dann Ansatzpunkte für eine Therapie. Wichtige Voraussetzung für eine Erfolg versprechende Psychotherapie ist, dass der betroffene Mensch noch einen Grund für sich sieht weiterzuleben.

Es macht dabei ­einen Unterschied, ob man zufällig zur falschen Zeit an der falschen Straßen­ecke stand und deswegen mitgenommen und gefoltert wurde oder ob man weiß, dass man im Kampf ­gegen eine repressive Regierung riskiert, eines Tages gefoltert zu werden.

Welchen Unterschied macht das?

Pauschal gesagt hilft es, wenn man ideologisch gefestigt ist. Es gibt einzelne Beispiele, wo es eher nachteilig ist, aber meist ist eine gefestigte Weltanschauung – sie muss nicht politisch sein, sie kann auch religiös oder philosophisch geprägt sein – hilfreich bei der Verarbeitungen der traumatischen Erfahrungen.

Weil das Böse damit einen Platz in der Weltordnung bekommt?

Weil man über diese Fragen schon nachgedacht hat, wenn man ideologisch, religiös oder philosophisch gefestigt ist. Weil man ein Erklärungsmodell hat: Warum gibt es das Böse auf der Welt? Warum gibt es Faschisten oder andere, die Böses tun, die an die Macht kommen?

Aus welchen Ländern kommen die Menschen, die Sie behandeln?

Unter meinen Patienten, die Folter erlitten haben, waren viele Lateinamerikaner, vorwiegend aus Argentinien, Chile und Peru. Andere waren Kurden, hauptsächlich aus der Türkei, Türken, Iraner, Syrer und Iraker. Und einige waren Stasi-Opfer.

Warum macht es für das Opfer einen Unterschied, ob der Täter ein Einzelner ist oder Teil eines Systems?

Opfer eines Verbrechens zu werden ist für die meisten Menschen noch im Rahmen des Vorstellbaren. Denn das ist ein Teil des Lebensrisikos: Wenn ich Pech habe, werde ich Opfer eines Gewaltverbrechens oder habe einen schweren Verkehrsunfall. Wenn der Staat, in dem der Mensch lebt, die Verbrechen begeht, erschüttert das grundsätzlicher. Die Gesellschaft, deren Teil ich bin, die sich um mich sorgen und mich schützen sollte, begeht an mir Verbrechen.

Das FBI hat sich skeptisch geäußert gegenüber Informationen, die durch Folter gewonnen werden. Es sei effizienter, Menschen für Kooperation zu gewinnen. Warum wird unbeirrt weiter gefoltert?

Die allgemeine Meinung ist, dass es beim Foltern um Geständnisse geht, aber es geht mehr um das Brechen des Menschen. Ein Mensch, der als Held empfunden wurde und gebrochen aus der Folterkammer herauskommt, ist als politisches Signal der Unterdrücker viel effektiver als ein Mensch, der sofort umgebracht wird.

Es kommt noch hinzu: Folterer ist nicht gleich Folterer. Das klingt sehr makaber – aber es gibt Leute, die diesen Beruf sehr effektiv ausüben, und es gibt Leute, die machen es schlecht. Hier gibt es eine Parallele zwischen Folterern und Therapeuten.

60, Psychiater, geboren in Lima, aufgewachsen in Schweden. Er arbeitet in der Hamburger Praxisgemeinschaft haveno, die hauptsächlich mit traumatisierten Flüchtlingen arbeitet. havenos Arbeit wird unterstützt durch den Verein freihaven, der auf Spenden angewiesen ist.

Weil sie beide etwas entlocken wollen?

Nein. Der Therapeut sucht in den psychologischen Strukturen des Menschen die Schwachstellen und versucht sie zu stärken. Er arbeitet konstruktiv. Der Folterer sucht auch die Schwachstellen, nutzt sie aber destruktiv. Es ist ein recht schauriger Gedanke, aber professionell gut arbeitende Therapeuten wären wahrscheinlich auch effektive Folterer.

Müsste man sich auch mit körperlichem Schmerz auskennen, oder ist das gar nicht das Entscheidende?

Folter wirkt vor allem psychologisch. Wenn es nur um den erlittenen körperlichen Schmerz ginge, dann könnte der gefolterte Mensch die Erinnerung an die Folter meist bald hinter sich lassen. Aber jeder Mensch hat seine schwachen Punkte, die der Folterer zu finden versucht.

Ein Patient von mir war in einem Gefangenenlager, aus dem immer wieder Leute abtransportiert wurden und die zurück gebliebenen Gefangenen haben zu Recht angenommen, dass diese Personen meist ermordet wurden. Eines Tages wird mein Patient aus seiner Zelle geholt, er bekommt eine ­Kapuze über den Kopf gezogen. Er wird stundenlang durch die Gegend gefahren, dann in einen Raum gebracht, wo er hört, es sind viele Leute da, und er denkt: Das ist mein Erschießungskommando.

Und dann wird ihm die Kapuze vom Kopf gezogen und sie singen: „Happy ­Birthday“, denn es war sein Geburtstag. Er sagt, das sei das Schlimmste, was er je erlebt hat, und dabei hat er schwerste körperliche Folter mit fürchterlichen Schmerzen erlebt.

Ist es für Sie als Therapeut eine Gefahr, zu glauben, alles heilen zu können?

Das ist eine philosophische Dimension, die da hineinkommt: Was ist Heilen, was ist geistige Gesundheit? Um das zu illustrieren, erzähle ich Ihnen eine Therapiegeschichte, sehr vereinfacht: Ein Mann kam zu mir und sagte: Ich habe erlebt, wie meine Frau und meine zwei Töchter vor meinen Augen vergewaltigt und ermordet wurden. Mit dem, was ich erlebt habe, werde ich nie wieder glücklich sein. Aber ich habe zwei Söhne. Und für diese Söhne bin ich im Augenblick ein schlechter Vater, und das möchte ich ändern.

Am Ende der zweijährigen Therapie sagte er: Jetzt bin ich wieder ein guter Vater, aber glücklich bin ich nicht und werde es auch nie sein. Aber es war, obwohl der Mann weiterhin unglücklich war, eine sehr erfolgreiche Therapie.

Sind das die guten Momente Ihrer ­Arbeit?

Es gilt für uns alle, dass wir von unserer Lebensgeschichte geprägt sind, wir müssen lernen, mit unseren Erinnerungen zu leben und sie bestenfalls als Teil unseres Selbst zu akzeptieren. Das gilt auch für Folterüberlebende. Ich fragte neulich eine Patientin: „Hat Sie die Folter als Mensch verändert?“ – „Ja, selbstverständlich“, war die Antwort. Ich fragte: „Wären Sie gern ein anderer Mensch als der, der Sie heute sind?“ – „Eigentlich nein“, antwortete sie.

Sie sprechen teils von Folterüberlebenden, teils von Folteropfern. ­Warum?

Für manche Menschen, die gefoltert wurden, ist das ein sehr wichtiges Thema. Man muss es den Menschen unbedingt selbst überlassen: Wenn jemand sagt, ich bin Folteropfer und werde es für den Rest meines Lebens sein, dann akzeptiere ich das selbstverständlich. Für andere Folterüberlebende ist ein Opfer ein wehrloser und ausgelieferter Mensch ohne Integrität und Autonomie, und sie haben darum gerungen, diesen Zustand hinter sich zu lassen. Wenn jemand sagt: Ich bin Folterüberlebender, ich bin ein Mensch, der früher Folter erfahren hat, akzeptiere ich es genauso.

Haben die Überlebenden das Gefühl, dass sie das Erlebte anderen überhaupt verständlich machen können?

Der Folterüberlebende hat eine außergewöhnliche Erfahrung gemacht, die 99 Prozent der Menschen nicht verstehen, nicht nachvollziehen können, und da herrscht Sprachlosigkeit. Wenn es therapeutisch klappt, hat er jemanden, mit dem er oder sie die Erfahrungen teilen kann.

Aber es gibt auch andere Bewältigungsstrategien als die Therapie. Mancher macht das allein mit sich selbst aus. Es gibt ehemalige politische Gefangene, die sich treffen und austauschen. Eine argentinische Patientin sagte mir: „Die einzige echte Freundschaft, die es im Leben gibt, habe ich im Gefängnis für politische Gefangene erlebt, wo wir gefoltert wurden.“

Welche Rolle spielen Schuldgefühle, etwa wenn man Namen unter der Folter preisgegeben hat?

Viele der Schuldgefühle von einst Gefolterten sind auf rein rationaler Ebene nicht begründbar. Sie sagen beispielsweise: In der Zelle, in der wir saßen, haben fünf Leute überlebt und fünf wurden getötet. Ich habe überlebt und fühle mich schuldig. Psychologische Folter zielt nicht selten auf Schuldgefühle ab: Ein Mensch wird zusammengeschlagen, verliert das Bewusstsein, und danach sagt man ihm: Jetzt wissen wir, was wir wissen wollten. Und der Mensch weiß nicht, was er erzählt oder nicht erzählt hat, fühlt sich aber unendlich schuldig.

Und wird es nie erfahren.

Er wird es nie erfahren, aber es wird ihn den Rest seines Lebens quälen. Eine sehr wirksame Folter ist es auch, Menschen vor unmögliche Wahlen zu stellen. Ein Beispiel, das erzählt wird: Du erschießt einen von den zehn, die da drüben an der Wand stehen, oder wir erschießen alle zehn.

Lässt sich das Weltvertrauen, das man durch Folter verliert, wiederherstellen?

Sehr langsam. Die tiefgreifende Störung des Urvertrauens ist der größte Unterschied zu anderen traumatisierten Menschen. Wer einmal in einer Umgebung gelebt hat, in der er niemandem vertrauen kann und immer wieder der Gewalt der anderen ausgeliefert ist, hat es danach sehr schwer, auch in einem friedlichen Umfeld.

Eine Patientin erzählte, dass sie in einer Gefängniszelle mit mehreren Leuten saß und jeder hatte sozusagen seinen Folterer. In die Zelle kam man über eine Treppe herunter. Ihr Folterer trug eine Art von Schuhen, die relativ gewöhnlich sind in Argentinien, und wenn sie sie sah, wusste sie: Jetzt bin ich dran. Nach der Folter, wann immer sie diese Schuhe in Buenos Aires sah, kam diese Erinnerung und die mit ihr verbundene Angst in ihr hoch.

Begegnet Ihnen das Bedürfnis nach Rache, das Bedürfnis, selbst einmal Täter oder Täterin zu sein?

Ja, häufig. Ich sehe ja nur diejenigen, die in Therapie sind und die sagen: Am liebsten würde ich das oder das tun. Sie wollen es aber eigentlich nicht, und deswegen sprechen sie darüber. Sie fühlen sich oft schuldig, dass sie so primitive Rachegefühle haben. Rachegefühle zu haben ist etwas Natürliches, aber Rache auszuüben ist fast immer unklug und unmoralisch. Dass jemand die Rachegefühle tatsächlich in Taten umgesetzt hat, habe ich bis jetzt nicht erlebt.

Muss Zeit vergehen, bis Menschen ihre Folterung aufarbeiten können?

Nicht alle Menschen, die Folter erlebt haben, brauchen Psychotherapie oder andere Behandlung, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Unter denen, die therapeutische Hilfe suchen, haben manche wenige Monate nach den Foltererlebnissen posttraumatische Symptome, andere wirken jahrzehntelang nach außen völlig gesund und in sich gefestigt, bis ein manchmal banal scheinender Auslöser zu einem Zusammenbruch führt.

Hat sich Ihre Haltung gegenüber Ihren Patienten im Laufe der Jahre verändert?

Was sich nach und nach geändert hat: die Einsicht, dass nicht alle Folterüberlebende unschuldig oder gut sind. Ich begann diese Arbeit mit der Vorstellung, dass das Opfer immer der Gute und der Täter der Böse ist. Es ist nicht so einfach. Ich begegne Menschen, die schwerst gefoltert sind, aber selbst Organisationen angehören, die gefoltert haben.

Aber Sie brauchen ein Grundwohlwollen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Für jede Therapie muss vonseiten des Therapeuten eine gewisse Sympathie und ein gewisses Verständnis für den Patienten da sein. Es gibt Folteropfer, die politischen Organisationen angehört haben, die mir politisch zuwider sind. Die würde ich als Patienten ablehnen, aber letztendlich nicht aus politischen Gründen. Sondern weil ich für Menschen, die mir unsympathisch sind, kein guter Therapeut sein kann.

Können Sie jemanden behandeln, der selbst gefoltert hat?

Es gab einzelne Fälle, wo Menschen ihre Taten stark bereuten. Sie waren schwerst traumatisiert durch das, was sie getan hatten, und erklärten mir auch, wie sie in diese Rolle hineingerutscht sind. Ich glaube, die meisten Menschen, die in den Folterkammern foltern, sind nicht per se böse. Folterer werden herangezogen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Zehn Rekruten beim Militär müssen eine Sache nach der anderen machen, die sie eigentlich nicht machen wollen. Einer nach dem anderen springt ab, und am Ende ist einer von den zehn übrig, der nicht unbedingt der schlechteste Mensch unter ihnen ist, und hat alle Schritte mitgemacht, er wird dann der Folterer.

Und so einem Zehnten sind Sie begegnet?

Mir erzählte ein Patient, wie er, kurz bevor er „ein ganz schlechter Mensch wurde“, wie er es selbst ausdrückte, desertierte. Er hatte im Militärdienst den Auftrag bekommen, mit einer Gruppe zu einem Gebäude der Geheimpolizei zu fahren, dort große Säcke abzuholen und sie zum Friedhof zu bringen. Er und die anderen wussten nicht, was in den Säcken war, aber sie ahnten, dass es Leichen von gefolterten Menschen waren.

Es gab immer großes Unbehagen bei allen, aber die Gruppe war jedes Mal neu zusammengesetzt, und keiner wagte es, etwas zu sagen. Eines Tages erlebte er, dass sich in einem der Säcke etwas bewegte. Es kam zu einem großen Streit in der Gruppe, was zu tun wäre, da sagte er sich: „Mir reicht’s, ich kann nicht mehr“ und floh aus seinem Land.

Gibt es für Sie die Kategorie „schlechter Mensch“?

Ja, es gibt schlechte Menschen. Aber es sind extreme Ausnahmen, genauso wie die Helden.

Wird in der Debatte über straffällig gewordene Flüchtlinge deren Traumatisierung zum argumentativen Bumerang? Weil es plötzlich scheint, als seien viele Zeitbomben, die ihre Verletzung gegen andere wenden?

Es gibt zwei grundfalsche und gefährliche Tendenzen: Eine ist, es gebe Ärzte, Psychologen und Anwälte, die jedem bescheinigen, der es will, er sei traumatisiert. Die andere: Jeder traumatisierte Mensch ist ein potenzieller Gewalttäter, weil er so viel Gewalt erfahren hat. Es ist sehr wichtig bei psychischen Folgen von Folteropfern nicht von psychiatrischen Erkrankungen zu sprechen. In Diktaturen werden Oppositionelle als kriminell oder verrückt bezeichnet; man sollte bei Folteropfern nicht die Sprache der Unterdrücker nutzen.

Gerade wurde das 70-jährige Jubiläum der Erklärung der Menschenrechte gefeiert. Ist Folter auf dem Rückzug?

Die Bedeutung der Menschenrechte wird heruntergespielt – und damit auch das Thema Folter banalisiert. Jemand kann sagen, dass die Initiationsriten an den Colleges eigentlich das Gleiche seien wie das, was in Guantánamo stattfand. Was ich als schwierige Aussage empfand – die Guten dürfen foltern, die Schlechten nicht.

War man wirklich mal weiter, nicht nur auf dem Papier, sondern in der Praxis?

Vor 25 Jahren bekam bei Asylverfahren in Europa jeder Asyl, der einigermaßen glaubhaft behauptete, er oder sie sei gefoltert worden. Das ist jetzt anders, es wird sehr oft grundsätzlich angenommen, dass der über Foltererfahrungen berichtende Asylbewerber ein Lügner ist. Je komplexer und schwieriger die soziale und politische Situation in den reichen Ländern der Welt wird, sicher auch durch die Migration, desto mehr wird der Respekt vor Menschenrechten abgehandelt als eine Art Luxus, den man sich gelegentlich leisten kann.

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