Thriller „A House of Dynamite“: Die Zahnpasta ist aus der Tube
Kathryn Bigelow probt im Thriller „A House of Dynamite“ den Ernstfall auf globaler Ebene. Die Action verlegt sie in die Hierarchie der US-Regierung.

Der Ernstfall bedeutet: Es geht alles sehr schnell. „19 Minuten bis zum Einschlag“, meldet eine Stimme aus irgendeinem Kontrollraum. Menschen in Anzügen und Uniformen rücken ihre Sitze gerade, setzen sich die Headsets auf, konzentrieren sich. Aber noch glaubt niemand so wirklich an den Ernstfall. Diejenigen, die es wissen müssten, die Vorgesetzten in den jeweiligen Räumen, werfen ihren besorgten Untergebenen beruhigende Blicke zu und machen beschwichtigende Handbewegungen. „Du hast es im Griff. Wir haben das tausendmal geübt.“
Dann gibt es eine Fehlfunktion, damit war zu rechnen. Aber dann eben noch eine. Und dann die trockene Meldung eines „negativen Kontakts“. Damit hat keiner gerechnet. Nun sind es noch sechs Minuten. Und eine Stadt mit zehn Millionen Einwohnern ist bereits aufgegeben. Sorry, Chicago.
Allein schon wegen dieses Vibe Shifts muss man Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“ gesehen haben. Wie sich von einem Moment auf den anderen alles verändert, die Stimmung kippt, eine Art Schockfrost einsetzt. Eben noch gab es die Illusion von Kontrolle, von Übersicht, von geregeltem Ablauf. Im nächsten Moment ist alles anders, der Zug abgefahren, die Zahnpasta aus der Tube. Welche Handlungsoptionen gibt es überhaupt noch? Eine Figur beschreibt es als eine Wahl zwischen Kapitulation oder Selbstmord. „Ihre Entscheidung, Mr. Präsident!“
Angst vor dem Atomkrieg
In den 1980er Jahren war die Angst vor dem Atomkrieg so alltäglich wie heute die Themen des Kulturkampfs. Je mehr sich die Gegner des Kalten Kriegs einander annäherten, desto größer wurde die Furcht vor einer eventuellen Fehlfunktion der Systeme. Was, wenn irgendwo ein Flugobjekt hochgeht und auch nur versehentlich den Erstschlag auslöst?
Es gab damals schon Filme darüber. Sidney Lumet hat bereits 1964 mit „Angriffsziel Moskau“ den Roman „Fail Safe“ adaptiert. 1983 war „WarGames“ mit Matthew Broderick ein internationaler Kinohit. Im selben Jahr sang Nena den epochemachenden Song dazu: „99 Luftballons … auf ihrem Weg zum Horizont“.
„A House of Dynamite“. Regie: Kathryn Bigelow. Mit Idris Elba, Rebecca Ferguson u. a. USA 2025, 112 Min.
Bigelow verweist am Anfang von „A House of Dynamite“ mit Schriftzug darauf, dass es seinerzeit die Übereinkunft gab, die Zahl der Atomwaffen zu begrenzen, um das Risiko eines Atomkriegs zu verringern. Inzwischen scheint das in Vergessenheit geraten zu sein.
Ihr Film ist ein Weckruf, wenn man so will. Er bringt in Erinnerung, wie groß die Gefahr immer noch ist. Fast überdeutlich erklärt im Film selbst der von Idris Elba verkörperte amerikanische Präsident die Metapher des Titels, da sitzt er schon im Helikopter unterwegs zum Atombunker. Auf Deutsch beschreibt man die Lage bündig mit: Wir sitzen auf einem Pulverfass.
Mehr als eine Warnung vor dem Ernstfall
Aber Bigelows Film ist zugleich mehr als nur die Warnung davor, wie schnell im Ernstfall alles geht und wie wenig Optionen dann noch bleiben. Wie schon in „The Hurt Locker“ (2008) und besonders in „Zero Dark Thirty“ (2012) interessiert sich Bigelow für Entscheidungsprozesse. Und zwar sowohl für die der Institutionen mit ihren Handbüchern, ihren Apparaten und Hierarchien als auch für die in den Köpfen der Menschen mit ihrem Wissen, ihren Erinnerungen und ihren hochschießenden Emotionen.
„A House of Dynamite“ ist in drei ungefähr gleich lange Kapitel geteilt. Im ersten wird ein Flugkörper über dem Pazifik entdeckt. Zuerst denkt man noch, er geht direkt ins All, dann stellt man fest, dass die Flugbahn einen Bogen beschreibt, und dann, dass das Ende dieses Bogens in der Gegend bei Chicago liegt. Die bereits erwähnten „19 Minuten bis zum Einschlag“ werden gemeldet.
Empfohlener externer Inhalt
In der Raketenabwehrstation in Alaska und im Lagezentrum des Weißen Hauses – an der Wand sieht man an einer Stelle das berühmte Foto mit Barack Obama, Hillary Clinton und all den anderen, wie sie am 1. Mai 2011 die Erschießung Osama bin Ladens beobachten – kommen die Prozesse in Gang.
Informationen werden gesammelt, die Videokonferenz mit dem General, dem Sicherheitsberater, dem Verteidigungsminister und dem Präsidenten ist eingerichtet. Wer die Rakete abgeschossen hat, lässt sich schon nicht mehr feststellen. Der Countdown läuft, und auf einmal wird deutlich, dass die Handbücher und Befehlsreihen vielleicht vorbereitet sind, aber nicht die Menschen.
Drei verschiedene Perspektiven
Zweimal setzt Bigelow die Uhr zurück und schildert die Ereignisse aus jeweils anderer Perspektive. Wobei es nicht im „Rashomon“-Stil darum geht, andere Seiten oder Widersprüche zu enthüllen. Der Fokus verlagert sich in der Hierarchie nach oben. Weil sie miteinander interagieren, bleiben die Akteure im Wesentlichen dieselben, nur dass sie vom Vorder- in den Hintergrund treten.
In der ersten Sequenz gruppiert sich die Erzählung um die Sicherheitsbeamtin Olivia Walker (Rebecca Ferguson) im Lagezentrum des Weißen Hauses herum. In der zweiten bildet der Verteidigungsminister (Jared Harris) und in der letzten der US-Präsident (Elba) den Brennpunkt der Aufmerksamkeit.
Aber im Unterschied zum üblichen Actionfilm agieren diese Figuren eben nicht als zentrale Helden, die Einfluss nehmen aufs Geschehen. Sie alle werden dargestellt als Teile ihrer jeweiligen Apparate, ihrer Institutionen, mehr oder weniger zur puren Reaktion verdammt. Der Ernstfall müsste den Beweis dafür liefern, dass die Einzelnen versagen können, aber die Institution sich bewährt. Genau das stellt dieser Film infrage.
Keiner kann die inhärent öden Abläufe von Kommandozentralen und Regierungsbüros so spannend darstellen wie Kathryn Bigelow. Mit ihrem meisterhaften Gespür für Rhythmus collagiert sie hier den individuellen Alltag von mehr als einem Dutzend einzelner Figuren an den verschiedenen Enden der Betroffenheit. Dass Olivia Walker die Nacht durchwachte, weil ihr kleiner Sohn Fieber hatte, dass ihr Adjutant vorhat, seiner Freundin einen Heiratsantrag zu machen, dass der Vize des Sicherheitsberaters im Stau steht, diese Dinge schildert der Film mit der Atemlosigkeit eines Heist-Movies.
Summe der Zufälligkeiten
Die Alltäglichkeit macht die Figuren menschlich. Es könnte verkitschend wirken – eine junge Frau ist schwanger und jetzt geht die Welt unter! –, aber in diesem Film ergibt die Summe der Zufälligkeiten und Individualitäten noch etwas anderes. Je höher in der Hierarchie, desto chaotischer wird es. Nicht, weil „oben“ die schlechteren Menschen sitzen, sondern weil es eben auch da nur Menschen sind.
Bigelows Film erhebt Anspruch auf absolute Aktualität. Aber in einem läuft er ganz gegen den Strich: In keiner Szene, noch nicht mal im Hintergrund versteckt irgendwo, gibt es eine Anspielung auf die aktuelle US-Regierung und Donald Trump.
Der Verteidigungsminister, den Jared Harris hier verkörpert, wird in kurzen Szenen als um seine kürzlich verstorbene Frau trauernder Witwer charakterisiert, der die Vorstellung, nun auch noch seine Tochter zu verlieren, nicht erträgt. Den US-Präsidenten gibt Idris Elba als an diesem Tag etwas ausgepowerten, aber prinzipiell fähigen Mann. Aber was nutzt all die Kompetenz angesichts einer Entscheidung, die lautet: Selbstmord oder Kapitulation?
An einer Stelle hat die Gegenwart diesen Film bereits überholt: Der Bildschirm, der im Lagezentrum dem Verteidigungsminister vorbehalten ist, trägt im Film noch immer die Bezeichnung „SecDef“, kurz für Secretary of Defense. Da müsste dem Willen von Amtsinhaber Pete Hegseth nach inzwischen wohl „SecWar“, kurz für Secretary of War, stehen, was einem einen Schauer über den Rücken jagt.
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