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Tour de France der MännerMüder Mensch in Gelb

Ungewohnt erschöpft gelangt Tadej Pogačar ins Ziel. Jonas Vingegaard liefert ihm einen harten Zweikampf. Ein Deutscher ist der Beste vom Rest.

Radstar mit Spuren von Erschöpfung: Tadej Pogačar auf dem Weg durch die Alpen Foto: reuters

Paris taz | Jonas Vingegaard und Tadej Pogačar liefern sich in Frankreich einen Erschöpfungskampf, der an den legendären „rumble in the jungle“ zwischen George Foreman und Muhammad Ali 1974 in Kinshasa erinnert. Dieser Kampf kennt eigentlich keinen Sieger, sondern nur Überlebende – selbst wenn Pogačar im Gelben Trikot in Paris einfuhr und Vingegaard stellvertretend für seinen großen Rivalen das gepunktete Bergtrikot auf den Stadtberg Montmartre trug.

Tadej Pogačar ist müde geworden. Das ist die sportlich wohl wichtigste Nachricht von der 112. Tour de France. Er wirkte so erschlafft, dass ihn schon Journalisten fragten, ob er sich langweile bei dieser Tour. „Nein“, erwiderte er mit gequältem Lächeln. „Ich bin einfach nur müde, so müde, dass ich schon die Kilometer bis Paris herunterzähle“, meinte er.

Genau diesen Eindruck hatte man in der kompletten dritten Woche der Tour. Pogačar wirkte wie ein Büroangestellter in den letzten Wochen vor Rentenbeginn. Bloß keinen Fehler machen, bloß nicht zu viel Energie einsetzen, die Zeit herunterfließen lassen, bis man nie mehr in dieselben Gesichter schauen, die gleichen müden Witze hören muss!

Ja, tatsächlich, Tadej Pogačar, dieser einst so tatendurstige Kraftprotz aus der 1.000-Seelen-Gemeinde Komenda, der noch bei der Tour 2024 drei Tagessiege hintereinander in den letzten drei Tagen geholt und dabei kein bisschen erschöpft gewirkt hatte, war in der dritten Woche der diesjährigen Frankreichrundfahrt kaum mehr als der komplett uninspirierte Bruder seiner selbst.

Erfolgreiche Zermürbungstaktik

Das hatte natürlich Gründe. „Wir sagen ja bei jeder Tour, dass dies die härteste sei, und dass es immer härter werde. Aber dieses Jahr war es wirklich auf einem anderen Niveau. Das sieht man auch an unsere Leistungsdaten. Und ich freue mich, wenn das endlich vorbei ist“, meinte er.

Diese Aussagen von Pogačar, die sich in der letzten Woche wiederholten, können sich die Mannen vom Konkurrenzrennstall Visma/Lease a Bike rahmen und im Hauptquartier aufhängen lassen. Denn sie belegen, sie haben ihr Ziel erreicht. Ihr wichtigstes Teilziel zumindest. Sie wollten Pogačar zermürben. Das gelang. Sie haben ihm sogar fast die Lust am Radfahren genommen.

Die Taktikplaner des niederländischen Rennstalls haben dabei nur eines nicht bedacht: Mit den immerwährenden Tempoverschärfungen während der Etappen, vor allem in der ersten Woche, aber auch später, zermürbten sie auch ihren eigenen Kapitän. Sie zermürbten ihn wahrscheinlich sogar mehr als den Gegner. Denn der fuhr ja weiter in Gelb. Vingegaard hingegen war selbst so ausgelaugt, dass er niemals zum entscheidenden Antritt ansetzte.

Das verblüffte selbst Pogačar. „Ich dachte, heute würde Jonas vielleicht den Tagessieg holen wollen“, sagte er unmittelbar nach der letzten Berg­etappe am Freitag, und er sagte es so, dass man in die Übersetzung gern noch das Wort „wenigstens“ einfügen würde – also dass Vingegaard wenigstens heute mal aus dem Schatten heraustreten würde. Aber genau das tat der Däne nicht. Er wiederholte zwar gebetsmühlenartig: „Ich glaube an meine Chance. Ich werde attackieren.“ Ja, er sagte sogar, er werde für einen Alles-oder-nichts-Angriff sogar seinen zweiten Platz riskieren.

Konservativ schnell

Doch dieser Angriff, der noch einmal die Wende hätte bringen oder schnurstracks in den eigenen sportlichen Untergang führen können – der blieb aus. „Jonas blieb dann an meinem Hinterrad. Und ich bin mit konservativem Tempo, bei dem ich mich wohlfühle, ins Ziel gefahren“, erzählte Pogačar weiter.

Gut, was für einen durchermüdeten Pogačar ein konservatives Tempo darstellt, bringt die meisten anderen im Profiradsportgeschäft an ihre Leistungsgrenzen. Der tapfere Schotte Oscar Onley, der in den Bergen lange am Mann in Gelb zu kleben pflegte, um in dessen Windschatten noch auf Ge­samt­rang drei zu gelangen, musste beim „konservativen Pacing“ des Slowenen hoch zur Skistation La Plagne abreißen lassen. Bis auf Vingegaard und den formidablen Florian Lipowitz war dort ohnehin niemand mehr in Sichtweite.

Dass Pogačar andererseits nicht all-in ging, konnte man aber auch daran ablesen, dass im Moment des Abreißens von Onley plötzlich Lipowitz nach vorn schoss und Tempo machte. Diese Aktion feierte Lipowitz’ Head of Performance Rolf Aldag später als „genial“. Denn Tourneuling Lipowitz wollte gar nicht die beiden hochdekorierten Männer vor ihm in Bedrängnis bringen. Er war nur in Sorge, dass die beiden in ihrem ermüdeten Zustand so nachlassen würden, dass Onley wieder herankäme.

Und mit dem zwei Jahre jüngeren Schotten vom niederländischen Rennstall Picnic PostNL lieferte sich Deutschlands neues Bergtalent einen packenden Kampf um Platz drei und das Weiße Trikot des besten jungen Profis. „Oscar ist explodiert – und dann eine Lücke aufzureißen, war eine gute Überlegung von ihm. Den bevor Pogačar und Vingegaard wieder Tempo rausnehmen konnten, sorgte er dafür, dass die Lücke größer wurde“, lobte Aldag seinen Schützling.

Ein Deutscher in Weiß

Der 24-jährige Deutsche ist eindeutig auch ein Gewinner dieser Tour de France. Als Neuling ohne Erwartungsdruck nach Frankreich gekommen, waren nun zum Ende der Tour gleich mehrere Besuche auf dem Siegerpodium auf den Champs-Élysées für ihn eingeplant: Als Gesamt-Dritter hinter Pogačar und Vingegaard und eben als Gewinner der Wertung des Weißen Trikots.

Lipowitz kam etwas schwer in die Tour rein. Er zweifelte in den ersten Tagen sogar an Form und Vorbereitung, erzählte er später. „Es war nicht eine Frage der Form. Lipo musste sich erst an diesen brutalen Tourrhythmus mit den engen Straßen, den Zuschauern, die viel enger stehen und auch dem Feld, in dem viel mehr gekämpft wird, gewöhnen“, blickte Aldag auf die ersten Tage zurück. Der Rennstall RedBull-Bora-hansgrohe wählte auch deshalb einen konservativeren Ansatz.

Es ging darum, den Neuling zu schützen, aber auch den sehr sturzanfälligen Altmeister Primož Roglič. „Keiner von beiden ist, extrem gesprochen, der ‚große Reinhalter‘“, erklärte Aldag den Ansatz. „Beide sind sicherlich risikoavers, versuchen, die ganz gefährlichen Situationen zu vermeiden. Und das macht es für das Team auch etwas einfacher, dass nicht der eine immer ganz vorne und der andere immer ganz hinten ist. Sie können sich aneinander orientieren, und das macht es dann auch machbar für uns“, erläuterte er weiter.

Das flache Zeitfahren in Caen am fünften Tag stellte sich dann als Trendwende heraus. Lipowitz war allein unterwegs auf der Straße. Und die Kraft, die er auf die Pedale brachte, reichte für eine bessere Zeit, als sie sowohl Vinge­gaard wie auch der in diesem Bereich höher eingeschätzte Teamkollege Roglič erreichten. Lipowitz war plötzlich in den Top 10. Und Berg für Berg arbeitete er sich später dann vor – bis auf das Podium.

Sein Team will ihn behutsam weiterentwickeln. Weitere Podestplätze bei Grand Tours können die Folge sein – und gewiss nicht immer nur auf der untersten Stufe. Die ermüdendste Tour de France des 21. Jahrhunderts hat dieser Florian Lipowitz jedenfalls mit der Unbekümmertheit der Jugend gemeistert. Jonas Vingegaards Team hingegen muss im nächsten Schlachtplan mehr die Grenzen des eigenen Frontmannes berücksichtigen.

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