Tour de France ohne Langzeitgedächtnis: Wer zum Teufel ist Lance Armstrong?

Bei der Frankreich-Rundfahrt herrscht offenbar fortschreitende Amnesie. Keiner will sich mehr an den einstigen Rekordsieger Lance Armstrong erinnern. Das hat seine Gründe.

Armer Lance Armstrong: Keiner erinnert sich an ihn... Bild: dapd

ROUEN taz | Der größte Trophäensammler der Tour de France ist eine Schattengestalt. Es ist, als hätte es Lance Armstrong niemals bei der Tour de France gegeben, als sei er allenfalls ein Geist oder eine Gestalt aus einem Paralleluniversum.

Wen immer man im heutigen Tourzirkus auf den Texaner anspricht, der verzieht das Gesicht, als hätten ihn plötzlich Zahnschmerzen überfallen. „Ich schaue vorwärts. Ich schaue nicht zurück. Ich erinnere mich, dass ich Lance hier vor acht Jahren mit 1,6 Sekunden Vorsprung besiegte, aber ich schaue nicht auf das, was vor vielen, vielen Jahren geschah“, sagte Fabian Cancellara nach seinem Prologsieg in Lüttich.

Der Mann im Gelben Trikot des derzeit Führenden erinnert sich immerhin daran, einen Mann namens Lance einst besiegt zu haben. Dass dieser Mann seine großen Erfolge – der Prologniederlage gegen Cancellara, die dem Schweizer gerade noch so in den Sinn kommt, stehen sieben Gesamtsiege bei der Tour de France gegenüber – offenbar mit einem 14 Jahre andauernden organisierten Dopingbetrug erreicht hat, scheint Cancellara nicht sonderlich zu beschäftigen.

„Es liegt an Lance und Johan (Bruyneel), diese Sache zu klären“, sagte er – und machte den Eindruck, als handle es sich allenfalls um eine Lappalie. Dabei wirft die Antidopingagentur der Vereinigten Staaten Usada Armstrong, seinem Intimus Bruyneel und weiteren vier Ärzten und Betreuern organisiertes Doping vor.

Es geht um den Zeitraum von 1996 bis 2010. So „viele, viele Jahre“ zurück liegt das also gar nicht. Cancellara mag man zugutehalten, dass Bruyneel immerhin sein Arbeitgeber bei RadioShack ist und Armstrongs Krebsstiftung Livestrong Co-Sponsor des Rennstalls. Wer beißt schon in die Hand, die einen füttert?

Aktives Vergessen muss man wollen

Dass aber der Chef eines Rennstalls, der sich als erneuernde Kraft des Radsports ausgibt, von selbst induzierter Amnesie betroffen ist, verblüfft dann doch: „Ich kümmere mich nicht darum, was einmal war, was irgendwo vor Gericht passiert, in Amerika oder sonst wo. Das hat keine Konsequenzen für mich. Ich denke nicht einmal daran“, sagt der Gründer des britischen Rennstalls Sky, Dave Brailsford. Mit dieser Haltung war der Brite nicht allein. Viele Fahrer und Betreuer halten Armstrong für einen sehr fernen und längst überwundenen Aspekt der Radsportgeschichte.

Lediglich David Millar, einst Doper und Dopingleugner, nach persönlicher Krise dann zum Kronzeugen gegen Doping und schließlich zu einer authentisch wirkenden Figur des sauberen Sports gewandelt, gab zu: „Wir können die Geschichte nicht unter den Teppich kehren. Dieser Sport hat sich 60 Jahre lang selbst verletzt. Wir waren ein Dopingsport. Jetzt sind wir ein Antidopingsport.“ Und weiter: „Es hat einen Paradigmenwechsel gegeben. Aber in dem Moment, in dem wir die Vergangenheit vergessen, hören wir auf, aufmerksam gegenüber der Gegenwart zu sein.“

Das ist ein fast schon staatsmännisches Bekenntnis. Man hätte es sich gewünscht von jemandem in verantwortlicher Position. Vom Tour-Boss Christian Prudhomme zum Beispiel, der mit der Überfigur Armstrong seine Ägide als Chef des größten Radrennens der Welt eingeleitet hat. Doch Prudhomme macht nur ein spitzes Gesicht, wenn Journalisten ihn auf die Usada-Klage gegen Armstrong ansprechen. Kein Kommentar kommt von ihm, nur die Bemerkung, sich über die Eventualitäten des Falls nicht äußern zu wollen.

Sogar der Terminator-Titel ist verloren

Immerhin: Die Fotos in dem mobilen Dörfchen, das in jedem Etappenort für den Verkauf von Werbeartikeln und Souvenirs aufgebaut wird, haben seltener als in den letzten Jahren den Amerikaner als Motiv. Selbst seinen Titel „Terminator“ hat er verloren; den Slowaken Peter Sagan nannten schon die Kontrahenten im Mountainbikezirkus so.

Nach zwei Etappensiegen bei seiner Debüt-Tour 2012 – er war übrigens jünger als Armstrong bei seinem ersten Etappenerfolg in Frankreich – wurde dieser Titel für ihn auch im Straßenradsport eingeführt. Sagan setzte noch einen drauf und ließ sich „Tourminator“ aufs Rad schreiben.

Es ist, als hätte es einen Texaner namens Lance niemals bei einer Tour gegeben. Nur ein gelbes Armband hier und dort, aber bei Weitem nicht mehr so viele wie noch vor Jahren, sowie der Schriftzug „Livestrong“ an den Hemden und Fahrzeugen von Team RadioShack erinnern noch an eine vergangene Epoche.

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