Tourismus in Argentinien: Krise im Gletscherparadies
Um die Inflation zu bekämpfen, hat Argentiniens libertärer Präsident Milei Ausgaben gekürzt. Das verteuert den Peso – mit ungewollten Nebenwirkungen.
Mariana Balli lebt und arbeitet seit 13 Jahren in El Calafate. „Als ich damals hier ankam, musste ich mich durch die Touristenmassen schlängeln“, erinnert sie sich. Aber sie erinnert sich auch an die Pandemie und die Quarantäne, als alles über Nacht zum Stillstand kam. Der Ort im Süden Argentiniens wäre gänzlich unbekannt, wenn er nicht am Rande des Nationalparks Los Glaciares liegen würde und wenn er nicht der beste Ausgangspunkt für einen Besuch des Parks und des Perito-Moreno-Gletschers wäre.
Heute zählt El Calafate rund 30.000 Einwohner*innen, die nahezu alle direkt oder indirekt vom Tourismus leben. Vom Luxushotel bis zur kleinen Herberge ist alles vorhanden. Aber es kriselt. Argentinien ist teuer geworden, auch für ausländische Besucher*innen. Ursache dafür ist die Finanzpolitik des liberal-libertären Präsidenten Milei und sein Versprechen, die Inflation zu beseitigen, unter der Argentinien mit dreistelligen Jahresraten noch bis vor Kurzem gelitten hatte.
Tatsächlich hat seine extrem restriktive Finanzpolitik zu einem drastischen Rückgang der Inflationsrate geführt. Gleichzeitig hat sie jedoch bewirkt, dass der Wert des Pesos, der Landeswährung, gegenüber dem Dollar gestiegen ist. Inzwischen ist der billige Dollar selbst ein Instrument zur Inflationsbekämpfung, da er importierte Waren verbilligt, weshalb Milei mit allen finanzpolitischen Mitteln daran festhält.
Viele Argentinier*innen reisen ins Ausland
Für viele Argentinier*innen bedeutet das, dass Reisen ins Ausland günstiger sind als der Urlaub im eigenen Land. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2025 erreichte die Zahl der argentinischen Touristen im Ausland 6,7 Millionen, den höchsten Stand seit neun Jahren. „Es ist billiger, von Buenos Aires nach Miami als nach El Calafate zu fliegen“, sagte Pablo Perret, Präsident des Verbandes für Touristenunterkünfte in El Calafate (Acatec). Perret schätzt, dass sich etwa 40 Prozent der Bevölkerung Urlaubsreisen heute noch leisten können. Die meisten gingen ins benachbarte Ausland, in die Karibik, in die Vereinigten Staaten oder nach Europa.

Touristische Hotspots wie El Calafate leiden besonders unter den Folgen. „Angesichts des seit Dezember 2023 niedrigen Dollarkurses sind wir im Vergleich zu anderen Reisezielen nicht wettbewerbsfähig“, sagt Perret. Die Saison 2024/2025 war schlecht und die Zukunft ist ungewiss, fügt er hinzu. Kommen die ausländischen Touristen nicht mehr in so großer Zahl, ist die Krise sofort spürbar. Nach Angaben der argentinischen Tourismuskammer sind seit Juli täglich zehn Arbeitsplätze in der Hotel- und Gastronomiebranche verloren gegangen. Dies ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Tragödie. „Die meisten von ihnen sind Familienbetriebe, die täglich Einnahmen verlieren“, sagt Perret, der zusammen mit seiner Frau kleine Cabañas vermietet.
„Der Rückgang der Besucherzahlen ist deutlich spürbar“, bestätigt Xoana Leggieri. Sie leitet ein kleines Reisebüro an der Avenida Libertador. Hier, an der Hauptstraße von El Calafate, reihen sich die Läden der Anbieter von organisierten Ausflügen und Tagesreisen aneinander. Bis vor zwei Jahren beschwerten sich nur Argentinier über die Preise, doch nun tun dies auch ausländische Besucher, sagt sie. Die Unzufriedenheit richtet sich jedoch nur gegen die Preise, nicht gegen das Reiseziel. „Alle sind sehr zufrieden mit El Calafate“, versichert die 35-Jährige und zeigt auf die Hochglanzfotos der Gletscher im Nationalpark, die in allen erdenklichen Blautönen schillern. „Die meisten Besucher bleiben drei Tage: Ankunft, ein Tag für den Perito-Moreno-Gletscher, ein Tag für andere Gletscher oder einen Ausflug nach El Chaltén, um das Fitz-Roy-Massiv zu sehen, Abreise“, zählt Xoana Leggieri auf.
Hotels schließen früher
Der über 700.000 Hektar große Nationalpark Los Glaciares ist einer der meistbesuchten Parks Argentiniens. Hier finden Sie spektakuläre Naturschönheiten, 60 bis 100 Meter hohe Gletscher, von denen mit ohrenbetäubendem Getöse riesige Brocken abbrechen und wie kleine Eisberge im milchig-trüben Wasser der Gletscherseen treiben, sowie steil aufragende Berge, deren wolkenverhangene Gipfel unüberwindbar erscheinen. Der Perito-Moreno-Gletscher ist nicht der größte, aber der spektakulärste Gletscher Patagoniens, deren herausragendes gemeinsames Merkmal darin besteht, dass sie fast auf Meereshöhe liegen. Allerdings hat eine kürzlich veröffentlichte Studie bestätigt, das sich auch der Perito-Moreno-Gletscher aufgrund des Klimawandels zurückzieht.
„Viele Hotels haben letzte Saison früher geschlossen, was zu zahlreichen Entlassungen geführt hat“, sagt Xoana Leggieri. Die Anspannung vor der nächsten Saison ist überall spürbar. „Die Zahl der Reservierungen von ausländischen Besuchern, insbesondere aus Europa, ist bereits deutlich zurückgegangen“, sagt Leggieri.
Diesen Trend bestätigt auch Mariana Balli in ihrem Geschäft Los Duendes del Bosque: „Es kommen deutlich weniger Kunden in den Laden.“ Dennoch sei sie optimistisch. „Unsere Textilien werden hier in Patagonien hergestellt. Sie sind von guter Qualität und haben daher einen entsprechenden Preis, Das wissen auch die Touristen zu schätzen“, versichert sie. Waren es in der Vergangenheit gerade die Motive auf den Textilien, die zum Kauf lockten, so sind es jetzt kleinere Mitbringsel und typisch lokale Süßigkeiten und Spirituosen, wie der Calafate-Likör, der aus den bläulichen Beeren des Calafate-Strauchs hergestellt wird, dem der Ort seinen Namen verdankt. „Der Süden Argentiniens war schon immer teuer als der Norden“, sagt Mariana Balli.
Die Preissteigerungen in Patagonien sind nicht ganz so extrem ausgefallen, bestätigt Acatec-Präsident Pablo Perret. „Was in Buenos Aires noch billiger ist, sind Gemüse und Obst, aber die Preise für Unterkunft, Restaurants und in den Supermärkten sind heute so hoch wie in El Calafate.“ Eine Lösung sieht der 55-Jährige nicht. Eine Abwertung des Peso würde dem Tourismus zwar einen Aufschwung verschaffen, aber auch die Inflation wieder anheizen, was die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft am härtesten treffen würde, sagt Perret.
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