Tourismus zwischen Bruderländern: Grenzverkehr in Eisenhüttenstadt

Einige Jahre vor dem Schengener Abkommen vereinbarten DDR, Polen und ČSSR visafreies Reisen. Eine Ausstellung lotet die „Grenzen der Freundschaft“ aus.

Vor der polnischen Tatra ist ein Parkplatz zu sehen, auf dem viele Autos stehen

Ein voller Parkplatz in der polnischen Tatra Foto: Hildegard Schneider, Hohe Tatra, Farb-Dia, 1970er, ©Museum Utopie und Alltag

Die DDR, das Land der Mauern, beherbergte zusammen mit der BRD lange Zeit die reisefreudigste Nation Europas. Ferien waren günstig, der sozialistische ostdeutsche Staat schrieb sich das „Recht auf Urlaub“ 1949 gleich in die eigene Verfassung. Ein erholter Arbeiter ist ein guter Arbeiter. Freie Tage dienten der „Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung“, hieß es in Artikel 16.

Ab 1972 war Urlaub nicht nur in der deutschen Heimat, sondern auch in den beiden Nachbarländern, Polen und der damaligen Tschechoslowakei, leichter möglich: Vor 50 Jahren vereinbarten die drei sozialistischen Bruderländer pass- und visafreies Reisen. Diesen „Freundschaftsgrenzen“ widmet das Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt aktuell eine Sonderausstellung.

Die Freundschaft der drei Staaten schien zunächst tatsächlich kaum Grenzen zu kennen. 50 Millionen Grenzübertritte verzeichnete allein die DDR in den ersten fünf Jahren seit Inkrafttreten des Abkommens. Die Ausstellung in Eisenhüttenstadt bewegt sich didaktisch nahe an dem, was in einem klassischen Heimatmuseum zu sehen wäre, ergänzt Souvenirs und Reiseutensilien aber um moderne Foto- und Videoinstallationen. Etliche Reisebroschüren zeugen vom Tourismus auch in unbekanntere Regionen und dem Hotelboom in den 1970er Jahren.

„Relax? Dann ab nach Polen!“, klingt es richtungsweisend von einem Reiseplakat mit lila Sonnenuntergang. Zum Wandern in die Tatra, zum Baden an die deutsche Ostsee, ein Städtetrip nach Prag – für die sozialistischen Staaten ist die Grenzöffnung ein Gewinn. Auch, um der heimischen Mangelwirtschaft entgegenzuwirken. So wird die DDR vor allem für ihre technischen Geräte geschätzt (Praktica-Kameras), während in Polen die Musikszene als fortschrittlichste des Ostblocks gilt.

Internationaler Austausch durch Musik

Festivals, wie das Jazz Jamboree in Warschau, ermöglichten Begegnungen zwischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die internationale Aufgabenteilung, der Austausch; es klingt friedlich, ein bisschen nach Utopie, die das Museum Utopie und Alltag schließlich auch im Namen trägt. Seit letztem Jahr fungiert das Haus in Eisenhüttenstadt, das mit dem Kunstarchiv Beeskow eine Einheit bildet, unter neuem Namen und soll auch mehr jüngere Be­su­che­r:in­nen anlocken, erklärt Museumsleiterin Florentine Nadolni.

Grenzen der Freundschaft“. Tourismus zwischen der DDR, ČSSR und Polen. Museum Utopie und Alltag, Eisenhüttenstadt, bis 30. April 2023

Von denen gibt es in der Umgebung jedoch immer weniger. Eisenhüttenstadt schrumpft, von seinen 50.000 Ein­woh­ne­r:in­nen zu Zeiten des Mauerfalls sind heute weniger als 25.000 übrig geblieben. Gegründet als sozialistische Planstadt und mit der Zeit gewachsen zu einem einzigartigen architektonischen Zeugnis der frühen DDR-Jahre, ist Eisenhüttenstadt arm an touristischer Beschilderung.

Das scheint politisch gewollt: Oberbürgermeister Frank Balzer (SPD) hält weiterhin an der Strahlkraft des Stahlwerks fest, des einstigen Eisenhüttenkombinat, das heute nach dem Hersteller ArcelorMittal benannt ist. Er wolle aus Eisenhüttenstadt, ehemals „Stalinstadt“, keine Museumsstadt machen, sagte er vor zwei Jahren dem Deutschlandfunk.

Das Museum Utopie und Alltag ist 1993 als Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR als erste Sammlung dieser Art gegründet worden, erklärt Florentine Nadolni. Nur habe es damals noch nicht Museum heißen sollen, zu präsent sei der DDR-Alltag noch gewesen. So utopisch wie es zunächst scheint, ist auch die aktuelle Ausstellung nicht, die in Kooperation mit der Viadrina-Universität entstanden ist.

Grenze zu Polen ist 1980 wieder dicht

1980 lässt die DDR die Grenze zu Polen schließen. Man fürchtete, die von der Solidarność-Gewerkschaft ausgehenden Unruhen könnten auf sie übergreifen. In der Tschechoslowakei wird den nun massenhaft anreisenden Ostdeutschen zunehmend mit Ressentiments begegnet. Zudem ist der Währungsumtausch im Nachbarland auf 30 Mark pro Tag begrenzt, was für Hotel und Restaurantbesuche kaum ausreicht.

Die Begeisterung für Auslandsreisen dürfte trotz aller Widrigkeiten auch wegen der heimischen Tourismusbranche nicht abgerissen sein. Urlaub war zwar günstig zu machen, dafür waren die DDR-Bürger:innen jedoch auch am Strand nicht vor der Ideologie ihres Arbeiter- und Bauernstaats gefeit.

In den Unterkünften des Feriendiensts des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes urlaubte man dicht an dicht, oft gemeinsam mit Arbeitskolleg:innen, Essen gab es wie im heimischen Betrieb im Schichtdienst. Camping wurde so in der DDR und in den Nachbarstaaten immer beliebter.

Nicht nur für Erholung, auch für eine dem SED-Regime unliebsame Bildungsarbeit waren die Auslandsreisen förderlich. Viele DDR-Bürger:innen kamen in Polen erstmals mit Opfern des Zweiten Weltkriegs in Berührung, die ja vielmehr den Vorgängern des kapitalistischen Klassenfeinds zur Last gelegt wurden. Zudem erhielten Vertriebene aus ehemals deutschen Gebieten die Möglichkeit, ihre einstige Heimat wiederzusehen: Der „Tourismus in halbversunkene Kindheiten blüht“, heißt es bei Christa Wolf, in ihrem Roman „Kindheitsmuster“.

Der Staatssicherheitsdienst war besonders in der ČSSR aktiv, reisten doch Ausreisewillige vor allem zum Ende der DDR-Zeit über die offene Grenze und versuchten, in die bundesdeutsche Botschaft zu gelangen. Damit trugen sie aktiv zum nahenden Ende ihres Staates bei: Als der damalige BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 die Ausreise der in der Botschaft ausharrenden Dissidenten in den Westen ankündigte, war das Gelände mit über 4.000 Menschen überfüllt. Keine sechs Wochen später war die Ausreise für alle DDR-Bürger:innen möglich.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.