Trainerin Schäfer über Olympia: „Es wird zu viel Krafttraining angesetzt“

Gertrud Schäfer war oft bei Olympia, zuerst als Kugelstoßerin, dann als Trainerin. Heute fehlt es in vielen Verbänden an ganzheitlichem Training, sagt sie.

„Leichtathletik hat nichts mit Gewichtheben zu tun tun“: Die deutsche Hammerwerferin Kathrin Klaas Bild: dpa

Im Ruhrgebiet sind Sommerferien. Ein Haus in einer altgewordenen Neubausiedlung im westfälischen Marl. Ein flacher Bungalow. Die Rollläden sind runtergelassen. Knapp über 30 Grad Celsius im Schatten. Die Tür öffnet sich.

Gertrud Schäfer: Warten Sie mal (kneift die Augen zu), ja jetzt wo ich das Gesicht sehe, ich kenne Sie, aber, dass muss schon über 10 Jahre her sein.

Mit ihrer Vermutung hat sie Recht, Abi 2001. Die 68-jährige Sportlehrerin füllt mit ihren 1,66 Meter den Eingangsbereich fast völlig aus. Stämmig wirkt sie, wach, präsent. Dann geht es auf die Terrasse. Auf dem Tisch stehen Schnittchen, eine Kanne Hagebuttentee und ein Holzschälchen randvoll mit eingelegten Gurken. Sie mustert ihren schmächtigen Gesprächspartner.

67, hier zu sehen auf einem Foto aus dem Jahr 1963, nahm als Kugelstoßerin und Diskuswerferin an den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko teil. Später arbeitete sie als erfolgreiche Trainerin und tranierte u.a. die Siebenkämpferin Sabine Braun und die Beate Peters. Heute arbeitet sie als Lehrerin im westfälischen Marl.

Gertrud Schäfer: Sie wissen, was für jeden Kugelstoßer gilt?

taz: Keine Ahnung.

Gertrud Schäfer: Essen. Immer gut essen.

Wie oft haben sie an olympischen Spielen teilgenommen?

Ich selbst war 1968 im Kugelstoßen in Mexiko dabei. Als Trainerin habe ich 1984 in Los Angeles, '88 in Seoul, '92 in Barcelona, und '96 in Atlanta, Beate Peters, die Siebenkämpferin Sabine Braun und die Kugelstoßerin Stephanie Storp betreut.

Wie war es denn so in Mexiko?

Das war das Größte. Teilzunehmen war natürlich ein Traum für mich. Wir haben davor im Höhentrainingslager in Flagstaff/Arizona trainiert. Allerdings war die medizinische Betreuung damals natürlich eine Farce gegenüber den heutigen Verhältnissen. Ich hatte damals Montezumas Rache – also Durchfall – und war überhaupt nicht in Form. Ich wollte den Wettkampf schnellstmöglich hinter mich bringen. Ich war platt wie eine Briefmarke. Vorher hatte ich ein richtiges Pfund drauf. So konnte ich aber nicht in den Endkampf eingreifen. Aber mal davon abgesehen, war es für uns eine Ehre teilzunehmen.

Also keine Medaille?

Ich war damals die Kleinste in der Weltrangliste. Wenn ich an die Anderen denke - das waren Hüninnen. 1,80 Meter war damals das Gardemaß. Drunter gab es kaum was. Ich ging damals über den Bereich Kraft, lag so um Platz zehn in der Welt, wurde Sechste bei den Europameisterschaften. Wenn ich den Drehstoß eher gekannt hätte, hätte ich mich da oben etablieren können.

An Ehrgeiz scheint es ihnen nie gemangelt zu haben?

Mit zwölf Jahren bin ich in Marl zum VFL Hüls gekommen – einem damaligen Akademiker-Club. Da habe ich die Hand der Hosentasche geballt und nur gedacht: Euch putz' ich irgendwann mal weg. Diese Power habe ich bis heute.

Sie haben später Sport studiert. Gab es in den 60er Jahren eine gezielte Förderung für die Athletinnen?

Eine Professorin ist mir damals sehr entgegengekommen. Im Semester waren Schwimmkurse angesetzt und mir war klar, wenn ich jetzt hart schwimmen muss, kann ich die Deutschen Meisterschaften knicken. Da hätte ich eher das Wasser kaputt gemacht. Ich habe mich damals mit Nivea eingecremt, damit ich wenigstens das Gefühl des Gleitens bekam. Also habe ich versprochen in den Semesterferien zu trainieren und dann die Scheine zu machen. Da gab es aber keine Vorteile, dass wurde knallhart durchgezogen.

Wie sah es mit einer auf den Sport abgestimmten Ernährung aus?

Ich habe selbst gekocht. Mittags gab's zwei Steaks, ein Pfund Quark und zwei Pfirsiche. Wir hatten damals eine Nachbarin, die fragte, ob noch Besuch zum Essen käme. Die war geizig und konnte das gar nicht fassen (lacht). Ich habe damals alle Hebel in Bewegung gesetzt. Bei mir ging es nur ums Optimieren. Das Anspruchsdenken von heute ist mir völlig fremd. Ich habe mich immer gefreut, richtig knüppeln zu können.

Wie begann die zweite Laufbahn als Trainerin?

Bei Beate Peters rief mich, nach dem Ende meiner aktiven Karriere, deren damalige Westfalen-Trainerin an und fragte, ob ich mich um sie kümmern könne. Sie hatte die Sorge, dass Peters zum Volleyball abwandern könne. Meine Domäne war eigentlich das Kugelstoßen. Also habe ich mir innerhalb eines Jahres das Knowhow des Speerwerfens angeeignet. Bei Sabine Braun habe ich erst den Wurfbereich übernommen, das wurde dann sukzessive immer mehr.

Ich habe mich intensiv in andere Disziplinen eingearbeitet ob nun Hürdenlauf oder Hochsprung. Mir macht der Sport nach wie vor von der wissenschaftlichen Seite unheimlich viel Spaß. Ich unterhalte mich viel mit Günter Eisinger, dem Trainer der Hochspringerin Ariane Friedrich, der sagt nach unseren Gesprächen immer, Mensch, Gertrud, wo hast du denn das schon wieder her. Ich besuche nach wie vor Vorlesungen an der Sporthochschule in Köln, mache Fortbildungen beim DLV, gebe Vorträge und bin sehr gut vernetzt. Ich zeig' ihnen mal was. Habe ich mir letztens auf der FIBO (jährliche internationale Fitness-Messe in Essen, Anmerkung der Redaktion) gekauft.

Schäfer sprintet ins Haus und kommt mit einem handlichen Gerät zum Training der Fußmuskulatur wieder. Sie legt es auf einem Gartenstuhl ab. Weg mit der Sandale. Zack, sitzt ihr linker Fuß in der dafür vorgesehenen Vorrichtung. Sie beginnt ein kleines Gewicht mit dem Fuß auf und ab zu bewegen.

Fußhebemuskel. Ich trainiere in der Form, so dass ich entweder den kompletten Fuß anhebe oder nur die Zehen. Die meisten trainieren den Fuß gar nicht, dabei wird er am meisten belastet und am wenigsten trainiert. Und dann wundern sich Athleten und Trainer, dass der Fuß kaputt geht. Ich sehe mit Skepsis einige Dinge, die im Zehnkampf vor sich gehen.

Wenn ich mir Michael Schrader (verletzungsbedingt bei Olympia nicht dabei, Anmerkung der Redaktion) ansehe, mit zwei oder drei Ermüdungsbrüchen, dann läuft da doch schon was im Training falsch. Man arbeitet doch im Grenzbereich. Es braucht eine Balance zwischen Belastung und Entlastung. Es kann nicht sein, dass ich auf die Arme Gewicht draufpacke und mit den Füßen krabbel' ich nur durch den Sand.

Also individuelles Training?

Richtig. Schwächen ausmachen, begradigen und entsprechend optimieren. Das wird viel zu wenig gemacht. Einfach „Schema F“ durchziehen. Es wird zu viel Krafttraining angesetzt. Leichtathletik hat mit Gewichtheben nichts zu tun. Das ist eine völlig andere Dimension in der neuronalen Ansteuerung der Gewichtsverteilung und in der muskulären Belastung. In den Verbänden findet viel zu wenig Optimierung statt.Und nebenbei, als Trainerin hat mich nie interessiert, welche Vorteile ich hatte. Ich war immer dafür, die Sache zu optimieren. Den meisten der Trainer oder Bundestrainer geht es um die eigene Person, nicht um das Voranbringen einer Disziplin. Keine von meinen Athletinnen hatte je eine sportbedingte Operation, weil immer umfassend trainiert wurde. Kommen sie mal mit!

Die gläserne Wand zwischen Hausflur und Wohnzimmer ziert ein lebensgroßer Diskuswerfer in Kirchenfensteroptik. Im Büro türmen sich Trainingsunterlagen, Wettkampfprotokolle und medizinische Fachliteratur in den Schränken.

Sehen sie, dass habe ich alles akribisch ausgearbeitet! Das ist natürlich eine Riesenmaloche, aber es macht mir einfach Spaß zu katalogisieren. Ich will immer auf dem neusten Stand sein.

Es geht zurück auf die Terrasse.

Welche Strukturen in der deutschen Leichtathletik würden sie gerne noch verbessern?

Es gibt viele Männer, die den Frauenbereich beim Deutschen Leichtathletikverband betreuen, aber keine Frau, die im Männerbereich trainiert. Warum nicht? In der Fußball-Bundesliga läuft es genauso. Ich muss mit den Jungen ja kein Gespräch unter der Dusche führen. Mit der Frauenquote habe ich überhaupt nichts am Hut. Aber man sieht nicht den Bereich der Empathie bei Frauen. Die Männer denken zentraler, die Frauen eher peripher. Wissen und soziale Kompetenz. Die ideale Führungsriege in einem Unternehmen müsste demzufolge eigentlich immer aus einer Frau und einem Mann bestehen, die sich ergänzen.

Wie kriege ich meinen Athleten genau auf den einen Tag hin fit?

Physis und Psyche müssen harmonieren. Ruhe ist dabei ganz wichtig. Die eine braucht einen Film vorneweg und muss sich kaputtlachen, der andere seine Waldspaziergänge. Denken sie mal an den Zehnkämpfer Pascal Behrenbruch, der hat sich in Estland auf die Spiele vorbereitet, konzentriert sich voll auf den Sport, die Freundin ist in Frankfurt und auf einmal bringt der Junge Leistung – weitab vom Verband. Ich glaube als Bundestrainer oder Verband muss man souverän sein und akzeptieren, dass jeder Mensch andere Eigenarten hat.

Der Muskel ist immer dann am stärksten, wenn er lange regeneriert. Ich habe das mal bei Beate Peters erlebt. Sie warf immer ordentliche 62 Meter. Durch einen Zufall musste sie kurzzeitig verletzungsbedingt vor einem Wettkampf eine Woche pausieren. Danach hat sie bis zu 68 Meter geworfen. Die Pause war entscheidend. Dafür muss man ein Gefühl haben, eine Art Instinkt. Die Grundlage dafür ist aber auch eine lange Zusammenarbeit.

Ist das die Grundvoraussetzung für Erfolg?

Der Wettkampf ist das Ziel und die Medaille. Das sind natürlich fortwährende Stresssituationen. Das hält einen aber nicht davon ab, menschlich zu reagieren. Natürlich macht man Fehler, als Athlet ebenso wie der Trainer. Aber nur so macht man Erfahrungen, lernt mit Druck umzugehen. Ich habe neulich etwas sehr Interessantes aus dem Bereich Lernphysiologie gelesen. Kinder lernen chaotisch und damit unterrichten die Schulen meistens völlig an ihren Bedürfnissen vorbei. Entscheidend ist das differenzielle Lernen.

Unser Gehirn überspielt Missstände. Es sucht den einfachsten, den optimalen Weg. Als Lehrer muss ich also eine riesige Palette von Übungen draufhaben, um die Kinder produktiv auszulasten. Eigentlich funktioniert das ganze Leben so.

Sie unterrichten trotz Pensionsanspruch immer noch am Gymnasium.

Alles was ich jetzt mache, kommt der Schule zugute. Ich bin 68, die sechs Stunden, die ich heute noch gebe, sind eine Art Sahnestunden. Ich bekomme jetzt eine 7. Klasse. Da sind topfitte Mädels im Bereich Leichtathletik dabei. Mir würde es immer noch großen Spaß machen, jemanden hochzuziehen. Bis auf Marathon würde ich alles machen. Wenn so ein Sternchen käme – ich würde nicht nein sagen. Ich wäre heute wieder so verrückt.

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