„Transitniki“ in der Sowjetunion: Im Bann des Fernen Ostens

Sie reisten illegal durch die Sowjetunion – von der Arktis bis in die Subtropen. Die Ostreisenden von damals sind bis heute aktiv und vernetzt.

Uwe Wirthwein samt Begleitung in der Weite der russischen Wälder. Bild: privat

Iduna Böhning, 55, steigt die ausgetretenen Steinstufen hinauf. Ihre dicken, gewellten Haare straff zurückgebunden, schaut sie sich strahlend um. Der erste Stock dieses Häuschens aus dem Jahre 1836 beheimatet jetzt den eingetragenen Verein Kunsthaus Raskolnikow mit ihr als geschäftsführendem Vorstand. Hier finden Ausstellungen moderner Kunst, Hochschul- und andere Seminare statt. Aus dem Garten klingen die Geräusche eines getrennt bewirtschafteten Cafés. Der Verein hat das Gebäude an einen anderen Betreiber abgegeben, der es seit 1996 sanft saniert.

Wie andere Häuser in dieser Umgebung, der historischen Dresdener Neustadt (eigentlich einer Altstadt), sollte auch dieses in den 80er Jahren abgerissen werden. Damals besetzten es KünstlerInnen aus Idunas Kreis. Es folgten zehn Jahre Kampf und Verhandlungen. „Die notwendige Kompromissfähigkeit und Nervenstärke dafür habe ich mir bereits als Studentin und illegal die UdSSR Bereisende an den Gipfeln des Kaukasus antrainiert“, sagt die Galeristin heute. Aber auch schon als Kind während der Schulferien im selben Staat.

Wann immer ihre Familie sich damals Staatsgrenzen näherte, mussten Iduna und ihre Schwester den Mund halten. Gemäß der durchquerten Kultur trugen sie oft Zöpfe, wie die Mädels dort, mit großen Schleifen. Die Mutter, von Beruf Lehrerin, und der Vater, Bergbauingenieur, sind noch heute überzeugte Kommunisten und erblicken nichts Ungesetzliches in ihren damaligen Urlaubssitten.

Doch Iduna, heute selbst Mutter einer erwachsenen Tochter, ist sich sicher: In den Odessaer Hafenkontoren wurde „manchmal mit echten Rubeln bezahlt, und beim nächsten Mal wussten die Eltern schon, welche Geschenke wessen Begehrlichkeit weckten“. So gelangten sie Anfang der siebziger Jahre auf die Krim. Der 12-Jährigen „schwanden fast die Sinne vor Palmen, Mandarinenhainen und Delphinen“, sagt sie.

Bücher: Jörg Kuhbandner, Jan Oelker (Hrsg.): „Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion“, Notschriften-Verlag, Radebeul 2010, 576 Seiten, 29,90 Euro; Cornelia Klauß, Frank Böttcher: „Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich“, Lukas Verlag, Berlin 2011, 444 Seiten, 24,90 Euro

Fotoausstellung: Ab dem 16. 1. 2015: „Unerkannt durch Freundesland – Reisen durch die zerfallene Sowjetunion“ im Museum Pankow, Prenzlauer Allee 227/228,10405 Berlin

Robert Conrad: Auch der inzwischen in Berlin lebende Fotograf (geb. 1962) ist ein Extransitnik. Nach der Maueröffnung dokumentierte er die innerdeutsche Grenze systematisch und umfangreich. 99 der Aufnahmen zeigt jetzt das Virtuelle Museum der Toten Orte: http://vimudeap.info/99-mauerbilder.

Wochenlang in der UdSSR

Jeder weiß: Für reiselustige junge Leute in der DDR war der Westen unzugänglich. Dass sie aber auch gen Osten nur schwer vorankamen, gerät darüber in Vergessenheit. Vor allem den ganz großen Bruder UdSSR konnte man höchstens im Rahmen einer streng bewachten Reisegruppe kennenlernen.

Doch wo ein Wille war, da war auch ein Schlupfloch. Als Schlüssel zum Sowjetabenteuer dienten seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts meist drei Tage lang gültige Transitvisa in andere Ostblockstaaten: zum Beispiel aus der DDR über die UdSSR nach Bulgarien. In der Regel handelte es sich um Leute Anfang zwanzig. Eine Familie mit Kindern war da die große Ausnahme. In den 80er Jahren blieben schon Tausende von Transitniki, wie sie sich selbst nannten, damit wochenlang in der UdSSR. Wurde man bei der Ausreise doch entdeckt, zahlte man meist nur eine kleine Geldstrafe.

Dafür konnten die InhaberInnen der Transitvisen Klimagürtel von der Arktis bis in die Subtropen durchqueren, lernten Muslime, Buddhisten und Anhänger des Schamanentums kennen. Alle organisierten ihre Reisen bis ins Detail, um unterwegs nicht aufzufliegen.

Der passionierte Bergsteiger

In der spätherbstlichen Sonne am Fenster im Künstlerverein Raskolnikow sitzt jetzt Jan Oelker. In den 80er Jahren betrachtete er die damals verfallenden Gebäude der Dresdener Neustadt bisweilen angeseilt vom Turm der benachbarten Martin-Luther-Kirche. Der passionierte Bergsteiger konnte sich mit sogenannten gerüstfreien Höhenarbeiten etwas dazuverdienen. Den Gewinn reinvestierte er flugs für Tickets in die UdSSR. Insgesamt fünf Transitreisen führten ihn in vierzehn Sowjetrepubliken.

So kam er zu seinem Beruf. Das Fotografieren und die ehemalige Sowjetunion ließen ihn nicht mehr los. 1996/97 gelangte Oelker als Aufnahmeleiter für die ZDF-Serie „Im Bannkreis des Nordens“ in den äußersten Osten, an die Beringstraße, an die Datumsgrenze, wo Russland und die USA nur 80 Kilometer voneinander entfernt sind.

„Wir wurden zu DDR-Zeiten in allen Teilen der UdSSR auf Augenhöhe empfangen. Damals waren wir Gleiche, heute sind wir Reiche“, konstatiert er. Und das sei kein Wunder: „In Ostdeutschland war die ganze Transformation sozial abgefedert, aber in der ehemaligen UdSSR sahen sich Lehrer und Ingenieure von einem Tag zum anderen gezwungen, um ihre Existenz zu kämpfen. Auf Petropawlowsk-Kamtschatka gab es vor dem Systemwechsel eines der weltbesten vulkanologischen Institute. Ein paar Jahre später waren die meisten Wissenschaftler dort entlassen. Einstige Geologen handelten nun mit bunten Steinen und führten Touristen.“

Den wirtschaftlichen Absturz Russlands in den Neunzigerjahren konnte sein geschultes Auge aus dem Flugzeug beobachten: „Die Russen vergessen heute, dass ihr Land von innen ausgeraubt wurde: Aus 10.000 Metern Höhe sehen die Wälder Sibiriens wegen der vielen Rodungen in den Neunzigerjahren inzwischen wie Schachbretter aus.“

Oelker führt uns in der Dresdener Neustadt einige Häuser weiter in eine andere Galerie, „Neue Osten“ heißt sie programmatisch. Hier endete gerade seine letzte Ausstellung, „Basis & Überbau“, mit Motiven aus dem Russland des Jahres 2013.

Eigene Grenzen überschreiten

Trotz persönlicher Distanz zur gegenwärtigen Regierung in Moskau verlieren Russlands Weiten, die herrlichen Landschaften und immer wieder freundliche BewohnerInnen nicht ihren Zauber für diesen Fotografen. Auf der letzten Fahrt durchquerte er Sibirien von der Mongolei aus.

Uwe Wirthwein (geb. 1961) sitzt in der angenehm warmen, nicht zu trockenen Luft seines Lehmhauses vor einem riesigen, holzbefeuerten Rundofen in Behrungen. In den 80er Jahren wollte er so weit wie möglich fort von hier. Das Dorf lag als Enklave im Sperrgebiet an der thüringischen Grenze nahe der Rhön. Fremde kamen nicht vorbei. Stattdessen blickte er als Junge auf Hügel jenseits des nächsten Tale, „wo man nie hinkommt“, wie er es damals empfand.

Wirthwein studierte im 300 Kilometer entfernten Dresden Verkehrstechnik. Auch er verdiente sich seine UdSSR-Tickets in den 80er Jahren mit gerüstfreien Arbeiten an dortigen Fassaden. Nach vielen Wanderjahren ist Wirthwein nach Behrungen zurückgekehrt. Heute arbeitet er als selbstständiger Lehmbauer mit seiner Firma Lehmprojekt Thüringen. Auf einer grünen Wiese wohnt er mit seiner Partnerin Grit und den gemeinsamen drei Kindern. Seine beiden behäbigen achteckigen Lehmhäuser glucken nebeneinander. Wirthweins Freunde, darunter Jan Oelker, halfen beim Bau und bekamen dafür Anrecht darauf, hier ihre Ferien zu verbringen.

Uwe Wirthwein thematisiert, worüber ehemalige Transitniki sonst kaum reden: die Angst bei diesen Reisen damals und das Überschreiten eigener Grenzen. Er fürchtete sich vor Einladungen zu Trinkgelagen, vor der Weite der russischen Wälder und vor Lawinen, vor dem Rassismus mancher Sowjetvölker gegeneinander – alles zu Recht.

Natürlich war es trotzdem schön. Zum Beispiel im Jahre 1989. Da baute er mit Jan Oelker und einem Dritten im Bunde selbst einen Katamaran für eine Tour auf dem Wildfluss Aldan in Südjakutien. Rumpf, Segel, die eigene Sportkleidung und andere Gegenstände bedruckte er mit einem eigenen Logo: das Wort „Sibir’ 89“ in kyrillischer Schrift, geschmückt mit einem Elch. Wirthwein ist überzeugt: „Unser offiziell wirkendes Styling hat uns vor Unannehmlichkeiten bewahrt!“ Doch ein Unbehagen bleibt: „Wir bewegten uns ohne Netz. Nach einem Unfall wären wir einfach verschollen geblieben.“

Freundschaften von damals blieben erhalten

Auch Jens Triebel (geb. 1969) hat bei Wirthweins Hausbau geholfen. Der promovierte Forstwirt ist passionierter Bergsteiger und heute parteiloser Oberbürgermeister der von Behrungen nur 30 Kilometer entfernten thüringischen Stadt Suhl (36.500 EinwohnerInnen). Seinen Wirkungskreis überblickt er an diesem kühlen Herbsttag vom dortigen Domberg aus. Die von einer Kapelle gekrönte Erhebung ist immerhin 674,8 Meter hoch. Allerdings war es der Durst nach den 7.000ern des Pamir-Gebirges, der ihn als Zwanzigjährigen noch 1989 in die UdSSR trieb.

Nein, ein Transitvisum war es nicht, sondern Triebel und einer seiner Freunde fälschten eine Einladung, die ein kranker Kumpel nicht gebrauchen konnte, auf die eigenen Namen um. Als winzige Chancen blieben ihnen nur die Spalte „Mitreisende“ und eine kyrillische Schreibmaschine. Triebel dazu später: „Wo es keinen Platz für Fehler gibt, da kann man sich eben keine leisten!“

Und wie erkennt man Fehler rechtzeitig im politischen Alltag? Den erlebt Triebel jetzt in der zweiten Amtsperiode. In der Herbstkälte nur im grauen Anzug zeigt er vom Domberg seine Erfolge: Die Stadt wird verdichtet, das heißt, neue Wohnungen sind wieder im Zentrum entstanden statt weit draußen. Er spricht von seinen Sorgen, zum Beispiel vom Bevölkerungsschwund. Und nun kommt auch noch Kurzarbeit dazu. In Suhl ist viel Waffenindustrie ansässig. Die leidet unter den Sanktionen gegen Russland.

Zu den Partnerstädten Suhls gehört seit 45 Jahren das zentralrussische Kaluga. Auch beim dort angesiedelten Tochterwerk der Volkswagen AG wird kurzgearbeitet – dank dem Krieg in der Ukraine. Zur Feier des 9. Novembers wird Triebel die Oberbürgermeister seiner sieben Partnerstädte herzlich begrüßen. Er hofft, mit ihnen gemeinsam „eine Erklärung der Städte für den Frieden“ unterzeichnen zu können, die, wie er sich ausdrückt, „Putin und Merkel daran erinnert, dass man Jahrzehnte guten Miteinanders nicht aufs Spiel setzen soll“. Triebel weiß nicht, ob das klappt: „Für den Kalugaer Kollegen ist das ein schwererer Schritt als für mich. Im Gegensatz zu ihm habe ich als Oberbürgermeister keine politischen Hierarchien über mir.“

Dass sich gerade die Freundschaften zwischen einstigen Transitniki aus der Umgebung von Suhl und Dresden über Jahrzehnte und ein paar Hundert Kilometer erhalten haben, ist vielleicht dem Zufall zu verdanken. Doch es muss eine Gesetzmäßigkeit dahinterstecken, wenn die meisten dieser Leute, die jung in fast autarken Reiseteams Erfahrungen sammelten, sich heute in selbstständigen Berufen verwirklichen.

Triebel allerdings, der Oberbürgermeister, gehört nie sich selbst – höchstens auf den Gipfeln der Berge. Und wo hat Jens Triebel seinen letzten Bergurlaub verbracht? Er möchte es am liebsten nicht verraten, damit sich der Tipp nicht herumspricht: „Das war in der Russischen Föderation, in Kabardino-Balkarien im Nordkaukasus. In dieser entlegenen Region hat man mich noch als Bruder empfangen. Es war fast wie damals.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.