Triage-Regel: Jede Lösung wäre empörend
Wer bekommt bei Pandemien das letzte Bett in der Intensivstation? Das Bundesverfassungsgericht überlässt es den Ländern, darüber zu entscheiden.
E s geht um Fragen von Leben und Tod. Wer wird bei einer Überlastung des Gesundheitswesens behandelt und wer nicht? Das Bundesverfassungsgericht hat darauf nun eine extrem profane Antwort gegeben: Das entsprechende Gesetz durfte nicht der Bundestag beschließen. Also sind jetzt die Landtage zuständig.
Die Karlsruher Entscheidung kommt überraschend. Während der Gesetzgebung vor drei Jahren zweifelte fast niemand an der Zuständigkeit des Bundestags, der damals ohnehin regelmäßig das Infektionsschutzgesetz änderte. Auch die klagenden Ärzt:innen des Marburger Bunds rügten nicht die fehlende Kompetenz des Bundestags, sondern einen unverhältnismäßigen Eingriff des Bundes in ihre Therapie- und Berufsfreiheit.
Die Karlsruher Argumentation ist aber überzeugend: Wenn es keine ausdrückliche Bundeskompetenz gibt, dann sind eben die Länder zuständig – auch wenn das wie meist im Föderalismus nicht zweckmäßig ist und zu unnötiger Rechtszersplitterung durch 16 Landesgesetze führt.
Enttäuschend ist, dass sich das Gericht auf die Kompetenzfragen beschränkte und die eigentliche verfassungsrechtliche Kritik der Ärzt:innen ignorierte. Offen bleibt, ob eine sogenannte Ex-Post-Triage verboten werden darf oder sogar muss. Das ist die tragische Konstellation, wenn alle Beatmungsgeräte belegt sind und Patient:innen eingewiesen werden, die eine bessere Überlebenswahrscheinlichkeit haben als bereits beatmeten Kranke. Wer bekommt die knappen Plätze auf der Intensivstation? Wer zuerst erkrankt ist? Oder wer eher überlebt?
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Die Länder können nur rätseln, was die Karlsruher Schweigsamkeit bedeutet: Konnten sich die Richter:innen nicht einigen? Im Zweifel gilt das Wort der Richter:innen aus einer früheren Entscheidung von 2021, dass der Gesetzgeber in diesen Fragen einen „weiten Gestaltungsspielraum“ hat. Nicht alles, was man empörend findet, ist auch verfassungswidrig. Das gilt insbesondere in Situationen, die deshalb tragisch sind, weil jede Lösung empörend ist.
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