„Trutz Simplex“ von Anna Herms in Berlin: Nach der Schelmin graben
In der Berliner Galerie Paint Shop führt Anna Herms die Werke von Schriftstellerinnen aus Vergangenheit und Gegenwart bildhauerisch vor Augen.
1405, als ihr „Le Livre de la Cité des Dames“ erschien, war Christine de Pizan 40 Jahre alt. Früh war die Venezianerin, die in Paris am Hofe Karls V. aufgewachsen war, Witwe geworden, doch anstatt erneut zu heiraten, entschied sie sich um 1390 selbst für ihren Unterhalt und den ihrer drei Kinder zu sorgen. Sie wurde Schriftstellerin, die bedeutendste Dichterin des französischen Mittelalters, wovon zahlreiche Abbildungen Christine de Pizans zeugen. Sie schrieb Balladen und Liebeslyrik, aber auch Abhandlungen über Erziehung und politische Texte. Oftmals positioniert sie sich darin gegen die Misogynie ihres gesellschaftlichen Umfelds.
Am deutlichsten tut sie das in „Le Livre de la Cité des Dames“. In dem Buch entwirft sie die Utopie einer Stadt der Frauen, nur für Frauen, die Schutzraum und eine Gegenwelt zu patriarchal geprägten Lebenswirklichkeit des französischen Mittelalters bietet. Darin verlangt sie Zugang zu Bildung, verurteilt Vergewaltigungen, betont die Ebenbürtigkeit von Frauen und Männern. Revolutionär sind ihre Thesen für die damalige Zeit, eine feministische Streitschrift, die vom europäischen Hochadel gelesen wurde – und wieder in Vergessenheit geriet.
Auch die Berliner Künstlerin Anna Herms hat erst vor einigen Monaten von dem Buch gehört. Und sich gewundert, wie sie sich ohnehin schon lange darüber wundert, warum es Werke von Schriftstellerinnen nicht in den Kanon der Literaturgeschichte schaffen. Oder in die Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen.
Von all dem erzählt ihre Ausstellung in der kleinen, erst ein Jahr alten Galerie Paint Shop in Berlin-Kreuzberg. Eine Art literarische Archäologie stellt Herms darin auf, ums Ausgraben und Sichtbarmachen geht es ihr. Deswegen hat sie Skulpturen aufgestellt, die Darstellungen der ägyptischen Katzengöttin Bastet nachemfpunden sind, und Fotografien dergleichen. Mahnend blicken sie auf die Besucher*innen.
Anna Herms: „Trutz Simplex“. Paint Shop, Berlin, bis 29. November
An den Wänden hängen Zeitungsartikel, die Herms seit einigen Jahren sammelt. Texte über Schriftstellerinnen und deren Wiederentdeckung sind es, manche bekannter wie Friederike Mayröcker oder Annie Ernaux, andere weniger. Christine de Pizans Buch wirkt bei all dem wie eine Klammer. In einem Video kann man zwei junge Frauen dabei beobachten, wie sie sich mit kosmetischen Tuchmasken im Gesicht das Werk gegenseitig vorlesen. Sie befinden sich irgendwo im Grünen, im nirgendwo, sie suchen nach Verortung, fragen nach dem, was bleibt – von den Gedanken der Schriftstellerinnen wie auch der Microplastik in ihrer Kosmetik.
Der weibliche Gegentext zum „Simplicissimus“
„Trutz Simplex“, der Titel der Ausstellung zitiert den gleichnamigen Schelmenroman von Grimmelshausen, den weiblichen Gegentext zu seinem bekannten „Simplicissimus“. Überraschend eigentlich, dass Herms ausgerechnet da auf das Werk eines Mannes verweist. Teil ist dieses auch von Herms Lektüreliste, die sie auf eine großgezogene schwarz-weiße Fotografie des Beton-Fundaments eines Berliner Investitionsgrabs geschrieben hat. Eine subjektive Auswahl, die noch weiter ergänzt werden kann und soll, chronologisch sortiert mit Jahreszahlen und Angaben zur Veröffentlichung.
Ohnehin lässt sich die Ausstellung als Aufforderung zum Lesen feministischer Literatur verstehen. Im hintersten Eck, auf einem Sims hat Herms eine „Kleine Leserin“ aufgestellt. Eigentlich, so erzählt es die Künstlerin, hätte die Figur aus gebranntem Ton Gertrud Klemms Essay über matriarchale Gesellschaften „Abschied vom Phallozän“ als Lektüre in den Händen halten sollen. Das Buch war jedoch zu schwer für die kleine Keramik. Nun sind es nur ein paar ausgedruckte Seiten. Stellvertretend stehen sie vielleicht auch für all die nicht oder noch nicht veröffentlichten Manuskripte.
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