Tuchel vor dem Champions-League-Finale: Ein großer Fan von Underdogs

Bei Paris Saint-Germain ist Trainer Thomas Tuchel weniger experimentierfreudig. Auch gegen den FC Bayern ist sein Rezept: bei sich selbst bleiben.

Trainer Tuchel sitzt auf einer Kühlbox am Spielfeldrand

Zufriedener bei PSG, als es ausschaut: Thomas Tuchel beim Finalturnier in Lissabon Foto: reuters

Thomas Tuchel macht normalerweise am Spielfeldrand einen äußerst vitalen Eindruck. Doch gerade sitzt der Trainer von Paris Saint-Germain gezwungenermaßen wegen eines Bruchs des linken Mittelfußes und eines klobigen Schutzschuhs auf seiner Kühlbox fest. Aufgekratzt ist er freilich vor dem Finale der Champions League des französischen Titelträgers PSG gegen den deutschen Rekordmeister FC Bayern (Sonntag, 23. August, 21 Uhr/ZDF). Hat Tuchel in Pressegesprächen schon mal so viel gelächelt wie in den vergangenen Tagen in Lissabon?

Je weiter dieses „Final-8“-Turnier in der portugiesischen Kapitale mit seiner eigenartigen Atmosphäre fortgeschritten ist, desto größer die Befreiung des Pariser Trainers. Spätestens nach dem Endspieleinzug gab der 46-Jährige beinahe kindlich anmutende Erinnerungen seiner Fußballbegeisterung preis, die nur eine Vermutung zulassen: All sein Streben nach Perfektion, nach dem Besserwerden liegt vielleicht in dem Wunsch begründet, sich auf der Champions-League-Bühne zu beweisen, die ihm weder in Paris noch in Dortmund zuvor über das Viertelfinale hinausgetragen hatte.

Nun stimulieren den Coach Europokalgeschichten, die sehr lange zurückliegen. Weil im Mannschaftshotel des PSG-Trosses ständig die alten Champions-League-Höhepunkte laufen würden, zum Beispiel AC Mailand gegen den FC Barcelona – die 4:0-Lehrstunde vom Finale 1994 –, „kann ich mich manchmal daran erinnern, wo ich das geschaut habe als Jugendlicher, wie der ganze Tag voller Vorfreude darauf war, die Spiele zu schauen“, erzählte Tuchel. Dieses Gefühl, führte er aus, komme heute zwar nicht mehr wieder, aber bei genau einem solchen Finale als einer der Hauptakteure mittendrin zu stecken, vermittelt viel innere Zufriedenheit.

Die Lebenslust ist dem oft grüblerisch, mitunter auch mürrisch wirkenden Coach dieser Tage anzusehen. In Dortmund verlor er mit seinen Schimpftiraden jeglichen Rückhalt bei seinen Spielern. Mit den Bossen überwarf er sich spätestens nach dem Busattentat vor dem Champions-League-Spiel gegen den AS Monaco im April 2017. Die Trennung war am Ende unvermeidlich.

Ungeduldig und cholerisch

Daniel Meuren und Tobias Schächter, die eine lesenswerte Tuchel-Biografie verfasst haben, haben dazu festgehalten: „In Mainz entwickelt er bereits mit den Jahren immer ausgeprägter auch jene Charakterzüge in seiner Mannschaftsführung, die vor allem in Dortmund zu Problemen führten. Er wird ungeduldig, bisweilen cholerisch sowie unnachgiebig und nachtragend.“

Vom ersten Tag bei PSG an hat Tuchel allerdings gewusst, dass er auf dieses Ensemble öffentlich nicht so eindreschen darf wie beim BVB. Irgendwie scheinen trotzdem alle gerade überrascht, wie gut die Maschinerie läuft. Die Superstars, vor allem Neymar, aber auch Kylian Mbappé oder Ángel Di María, stellen allesamt ihr Ego zurück. Trotz der großen Spieler, stellte Tuchel erstaunt fest, weise sein Team gerade die Mentalität einer kleinen Mannschaft auf. „Das ist bemerkenswert. Es fühlt sich so an, als würdest du einen Underdog trainieren.“ Und ­vielleicht behagt ihm das eher, jetzt Trainer vom „1. FSV Paris 05“ (Süddeutsche Zeitung) zu sein.

„Man könnte uns unterstellen, wir definieren uns nur über die Einzelqualität – aber das ist eben nicht so“, erklärte der PSG-Coach nach dem Halbfinale. „Das ist schön, dass wir die Verbissenheit jetzt zeigen. Das ist der Hammer.“ Wer dem ehemaligen Schalker Thilo Kehrer nach der Lehrstunde für die überforderten Leipziger zuhörte („Dieses Jahr sind wir als Mannschaft zusammengerückt. Wir sind wirklich ein eingeschweißter Haufen“), der konnte nicht genau ergründen, was nun das Zusammenwachsen zum hungrigen Kollektiv befördert hat. Er selbst sieht in den Zugängen einen wichtigen Faktor: „Wir haben mit Keylor Navas, Sarabia und Herrera Typen geholt, die Erfahrung haben, international gespielt haben und Titel gesammelt haben. Sie bringen sich total ein in die Mannschaft, die haben noch mal für Klebstoff gesorgt.“

In der deutschen Presse werden Tuchel – anders als seinem Gegenüber Hansi Flick – noch nicht übermäßig viele Lobpreisungen zuteil. Vielleicht liegt das daran, dass er sich im Gegensatz zu seinen Bundesliga-Anfangszeiten nicht nur im Coaching, sondern vor allem im Experimentieren zurückhält. Sein 4-4-3 und sein 4-4-2 unterscheiden sich nur in Nuancen, aber die Grundordnung ist immer dieselbe, weil es hinten am meisten Stabilität und vorne am meisten Flexibilität verspricht.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Früher ist Tuchel aufgeblüht, wenn er in Mainz mit wenigen Journalisten und ohne Kamera über ein anstehendes Spiel gegen den FC Bayern gesprochen hat. Zehn, elf taktische Herangehensweisen hatte er dann meist im Kopf, umgesetzt wurden am Wochenende dann tatsächlich schon mal vier oder fünf. Oft genug hatte Tuchel gegen die Bayern auch Erfolg. Am Sonntag wird Tuchel keine Experimente mehr angehen. Wie sagte er vor dem Halbfinale: „Wenn so viele Variablen im Spiel sind und so viel Qualität drinsteckt, ist der Schlüssel, bei sich selbst zu bleiben.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.