Türkei: Die Welt blickt gespannt auf Gül

Ein Sieg für die Demokratie: Der moderat islamische Abdullah Gül ist neuer Präsident. Doch der Konflikt mit dem Militär ist längst nicht erledigt.

Im dritten Gang gewählt: Der neue türkische Präsident Gül Bild: dpa

Fünf Monate lang hatte Abdullah Gül auf diesen Tag gewartet, gestern wurde der Mann aus dem zentralanatolischen Kayseri, der Mann mit der verhüllten Ehefrau, der charmante Plauderer und erfolgreiche Außenminister, zum elften Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Im dritten Wahlgang genügten die Stimmen seiner Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP).

Ahmet Necdet Sezer (2000-07) war zuvor Verfassungsrichter und damit der erste Staatspräsident, der weder Politiker noch General war, galt als integrer und laizistischer Staatsmann mit geringem Unterhaltungswert.

Süleyman Demirel (1993-2000), bekannt für seine Hartnäckigkeit: wurde zweimal als Ministerpräsident vom Militär gestürzt, übernahm den Job trotzdem ein drittes Mal, dann Staatspräsident.

Turgut Özal (1989-93) wurde 1983 gegen den Willen des Militärs zum Ministerpräsidenten gewählt, beschloss unter Umgehung des Parlaments die Teilnahme am Golfkrieg, rechtfertigte den Verfassungsbruch mit dem Satz: "Einmal ist keinmal."

Kenan Evren (1982-89) führte als Generalstabschef den Putsch von 1980, verteidigte die Hinrichtung eines 16-jährigen Linken mit dem Spruch: "Sollen wir sie füttern, anstatt sie zu hängen?" Heute berühmter Aquarellmaler mit verfassungsrechtlich garantierter Immunität.

Fahri Korutürk (1973-80) war pensionierter Admiral, hinterließ keinen bleibenden Eindruck, dennoch sind viele türkische Fähren nach ihm benannt.

Cevdet Sunay (1966-73) erst General, dann Präsident, überstand deshalb unbeschadet den Putsch von 1971.

Cemal Gürsel (1960-66) kam mit dem ersten Putsch an die Macht, sagte zu Kurden in Diyarbakir: "Spuckt jedem ins Gesicht, der euch Kurden nennt!"

Celâl Bayar (1950-60), erster Präsident im Mehrparteiensystem, aus dem Amt geputscht und zum Tode verurteilt, später begnadigt.

Ismet Inönü (1938-50), Stellvertreter Atatürks, unter ihm Übergang zum Mehrparteiensystem, vermied es, das Wort "Allah" auszusprechen.

Mustafa Kemal Atatürk (1923-38) führte die Republik, den Laizismus, das Kopftuchverbot und den Atatürk-Kult ein, hatte eigenwillige Ansichten über die Demokratie, meinte über die einfachen Leute: "Nicht ich darf mich ihnen, sondern sie müssen sich mir angleichen."

Dabei war er anfangs nicht allzu erpicht auf dieses Amt gewesen. Als er im April von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dafür nominiert wurde, schien es, als solle er lediglich den Platzhalter für Erdogan abgeben, so wie er einst kurzzeitig das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hatte. Als dann das Militär drohte, einen Parteigänger der islamisch-konservativen AKP notfalls mit einem Putsch zu verhindern, schien der Plan erledigt. Es folgten Massendemonstrationen gegen Gül, schließlich erklärte das Verfassungsgericht dessen Wahl zum Staatspräsidenten für ungültig.

Der Umschwung kam erst mit der vorgezogenen Parlamentswahl vom 22. Juli. Die 47 Prozent, die die AKP erhielt, interpretierte Gül auch als Votum in der Präsidentenfrage. Bis dahin hatte er eher als Parteisoldat die Auseinandersetzung geführt. Er hatte sich dem Kalkül Erdogans gefügt und wäre wohl dazu bereit gewesen, zugunsten Kompromisskandidaten dem Militär und dem kemalistischen Teil der Gesellschaft nachzugeben.

Mit der Wahl aber sah er seine Ambitionen legitimiert. Nun weigerte er sich, für einen Ausgleichskandidaten Platz zu machen, und warb stattdessen innerhalb der eigenen Partei und bei der Opposition für sich. Er versprach, dass er als Präsident über den Parteien stehen und sich religiös neutral verhalten werde. Verschiedenen Umfragen zufolge glaubt ihm eine Mehrheit der Bevölkerung das und würde ihn auch in einer direkten Wahl zum Präsidenten küren.

Nach dem überwältigenden Wahlsieg der AKP scheute sich das Militär, die offene Konfrontation fortzusetzen. Wochenlang weigerte sich Generalstabschef Yasar Büyükanit, sich zu Güls erneuter Kandidatur zu äußern, und beließ es bei nebulösen Missfallensbekundungen. Erst am Vorabend der Wahl, am späten Montagnachmittag, meldete sich der Generalstab noch einmal zu Wort, und zwar, wie schon bei der Putschdrohung im April, im Internet.

Zwar war der unmittelbare Anlass nicht die Präsidentschaftswahl, sondern der Nationalfeiertag am 30. August, doch kam die Grußbotschaft nicht nur etwas verfrüht, sondern war eher kämpferisch denn feierlich formuliert. Das Militär werde, ließ Büyükanit wissen, auch künftig die Republik gegen Separatisten und Islamisten verteidigen. Tag für Tag würden Pläne bekannt, die darauf abzielten, die "nationale Einheit und die demokratische und laizistische Ordnung" zu zerstören. Es gebe "Zentren des Bösen", die systematisch versuchten, die laizistische Struktur der Türkei zu untergraben. Die Armee werde das nicht zulassen.

Dass die Wahl Güls dennoch einen Tag später planmäßig vonstatten ging, zeigt, dass die AKP sich nach den Wahlen stark genug fühlt, solche Hinweise der Militärführung zu ignorieren. Tatsächlich hätte Gül wohl nur noch durch einen echten Putsch gestoppt werden können, für dessen Folgen wohl auch der Generalstabschef nicht die Verantwortung übernehmen wollte.

Umso stärker wird Abdullah Gül als Präsident unter Beobachtung stehen. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler, der seine politische Karriere in der Milli-Görüs-Bewegung begann, der Mitte der Neunzigerjahre als Sprecher der islamistischen Regierung unter Necmettin Erbakan fungierte, der sich später zum Reformisten wandelte und sich zusammen mit Erdogan von Erbakan löste und der als Außenminister die Türkei zu Beitrittsverhandlungen mit der EU führte, muss nun beweisen, dass er tatsächlich ein Präsident für alle Türken sein kann. Allem voran gehört dazu zu zeigen, dass das islamische Kopftuch seiner Ehefrau Hayrünnisa nicht mehr als ihr persönliches Accessoire ist.

Selbst wenn der türkische Präsident keine exekutiven Vollmachten besitzt, kann er doch politischen Einfluss nehmen, so wie Güls kemalistischer Vorgänger Ahmet Necdet Sezer Gül von diesen Möglichkeiten immer wieder Gebrauch gemacht hat. Gül könnte den Weg für das Kopftuch an den Universitäten freimachen, er könnte in den kommenden Jahren die höchsten Richterstellen konsequent mit Anhängern der AKP besetzen und er könnte sogar im kommenden Jahr, wenn die Amtszeit von Generalstabschef Büyükanit abläuft, versuchen, einen seiner Partei genehmen Nachfolger mit der Führung der Armee zu beauftragen.

Er könnte aber auch zeigen, dass er als Präsident mehr ist als der Befehlsempfänger von Ministerpräsident Erdogan und der Vollstrecker der Erwartungen der AKP. Dann müsste er dazu bereit sein, sich mit seinem politischen Freund und langjährigen Weggefährten Tayyip Erdogan anzulegen, und beweisen, dass er wirklich den Islam und die Demokratie miteinander versöhnen will. Nicht nur die Türkei, die islamische Welt genauso wie Europa und die USA werden ihm gespannt dabei zusehen.

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