Türkische Angriffe in Syrien: Erdoğans Vernichtungskrieg

Antikurdischer Rassismus prägt die Türkei seit jeher. Mit „berechtigten Sicherheitsinteressen“ haben die Angriffe auf Rojava nichts zu tun.

Eine Familie flieht aus Ras al Ayn

Menschen fliehen vom Dorf in die Stadt, von der Stadt ins Dorf Foto: ap

Seit dem vergangenen Dienstag schlagen türkische Raketen im kurdischen Gebiet Rojava in Syrien ein. Es ist ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung, den wir in Medienberichten live mitverfolgen können: Menschen fliehen vom Dorf in die Stadt, von der Stadt ins Dorf, je nachdem, wo gerade bombardiert wird. Sie schlafen auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen.

Das türkische Militär beschießt gezielt Konvois von fliehenden Zivilist*innen, Wohnviertel, Bäckereien und die Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind – die kommen frei. Auch wird von Exekutionen durch das türkische Militär berichtet. Die kurdische Politikerin Havrin Khalaf wurde regelrecht hingerichtet, ihr Körper von Kugeln durchsiebt. Nachdem die kurdische Selbstverwaltung die internationale Staatengemeinschaft vergeblich um Hilfe angefleht hatte, ging sie in ihrer Not einen Deal mit dem Assad-Regime ein, um eine ethnische Säuberung zu verhindern.

Die Kurd*innen haben in ihrer Geschichte eine lange Reihe von Massakern und Genozide zu verzeichnen, beispielsweise die Operation Anfal des Saddam-Regimes, bei der 180.000 Kurd*innen getötet wurden, und dem Genozid an den êzîdischen Kurd*innen 2014, verübt vom IS.

Schon in der Staatsgründung der Republik Türkei war der antikurdische Rassismus fest verankert. Aus „Kurden“ wurden damals „Bergtürken“ und später „Osttürken“. Antikurdische Gesetze wurden eingeführt, vom Verbot der Sprache bis hin zum Verbot kurdischer Kleidung. Assimilierung wurde erzwungen. Gegen die, die sich nicht assimilieren ließen, ging man mit brutaler Gewalt vor.

Gewalttaten auch seitens der Zivilbevölkerung

In der Türkei gibt es eine entsprechend lange Geschichte von antikurdischen Gewalttaten. Beispielsweise der Dersim-Genozid 1938, bei dem das türkische Militär Massaker an den kurdischen Alevit*innen in Dersim im Osten der Türkei verübte. Oder die 90er Jahre, als Tausende Zivilist*innen getötet wurden, auf offener Straße erschossen, in Foltergefängnissen verschwanden, und das türkische Militär Tausende kurdische Dörfer zerstörte.

Die USA haben im Nordsyrien-Konflikt überraschend eine Einigung mit der Türkei auf eine Waffenruhe verkündet. Die Türkei habe zugesagt, ihren Militäreinsatz gegen kurdische Milizen fünf Tage zu stoppen, sagte US-Vizepräsident Mike Pence am Donnerstagabend in Ankara nach Gesprächen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Türkei will die Aussetzung der Kämpfe nicht als „Waffenruhe“ verstanden wissen. Die Offensive werde nicht gestoppt, sondern „unterbrochen“, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu. (dpa)

Die Gewalttaten gegen Kurd*innen werden in der Türkei nicht nur von Geheimdienst, Polizei und Militär, also staatlicher Seite, aus, sondern auch von der Zivilbevölkerung verübt. Vor wenigen Tagen wurde laut Medienberichten ein 74 Jahre alter Patient im Krankenhaus von anderen Patient*innen verprügelt, weil er kurdisch gesprochen hatte. Letzten Dezember schoss man einem Vater und Sohn in den Kopf, weil sie kurdisch miteinander sprachen.

Als ich im vergangenen Jahr auf Recherchereise in der Türkei war, berichtete mir ein kurdischer Student, der in der Westtürkei studiert hatte, dass er von einem Mob aus türkisch-natio­nalistischen Student*innen verprügelt worden war, nur aufgrund seines vermeintlich kurdischen Aussehens.

Antikurdischer Rassismus tötet. Alle Parteien im türkischen Parlament, mit Ausnahme der HDP, haben diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zugestimmt. Gegen die Kurd*innen sind sich alle einig. Nach der Niederlage bei der Istanbul-Wahl schafft der türkische Präsident Erdoğan mit Hilfe des antikurdischen Rassismus einen Schulterschluss: Gemeinsam gegen den kurdischen Feind.

Eine App zum Denunzieren

Dieser Krieg findet nicht nur in Rojava statt, sondern auch innerhalb der türkischen Landesgrenzen. Bewohner*innen im Grenzgebiet berichten von Evakuierungen. Kurdische Bürger­meister*innen werden festgenommen. Menschen, die den Einmarsch kritisieren, werden ins Gefängnis gesteckt.

Erdoğan spricht von „Verteidigung“, wenn er Angriff meint, und von „Terroristen“, wenn er Kurd*innen meint

Auch in Ditib-Moscheen in Deutschland wird für den Sieg in Rojava gebetet, die Fetih-Sure hat man noch parat vom letzten Krieg in Afrîn. Über eine App namens EGM (zu finden auch im App­store) können türkische Staatsbürger*innen ganz bequem von ihrem Wohnzimmersofa in Hamburg-Altona oder Weihenstephan aus andere türkische Staatsbürger*innen, die sich kritisch über Erdoğan äußern, denunzieren. Unbürokratisch, schnell mal eben auf der Arbeit: Die Kollegin hat in der Raucherpause den Einmarsch als völkerrechtswidrig bezeichnet? Zack, denunziert.

Der Krieg findet seinen Weg in internationale Fußballstadien, wenn türkische Fußballspieler militärisch grüßen, und ins Internet. So wurde der Facebook-Account der kurdisch-österreichischen Politikerin Berivan Aslan, die den Einmarsch kritisierte, in den letzten Tagen gleich zweimal von türkischen Faschist*innen gehackt.

Ob Twitter oder Instagram: Beleidigungen, Hassnachrichten, Wolf-Emojis und Türkeiflaggen erhalten gerade alle, die sich gegen Erdoğans Kriegspolitik äußern. Kurdische Kritiker*innen dieses Krieges werden pauschal als PKK-Anhänger*innen oder Islamhasser*innen diskreditiert.

Eine Diskursverschiebung

Nicht zuletzt spielt sich dieser Krieg auch in der Sprache ab. Erdoğan spricht von „Verteidigung“, wenn er Angriff meint, von „Terroristen“, wenn er Kurd*innen meint, und von „Sieg“, wenn er Vernichtung meint. Terroristen darf man töten, sie stellen eine Bedrohung für das Allgemeinwohl dar. Mit Terroristen kann man nicht verhandeln. Greifen sie an, muss man sich verteidigen.

Feinde muss man mit allen Mitteln bekämpfen, auch wenn dies bedeutet, sich mit anderen „zornigen Jungs“ (ein Zitat des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu während der Schlacht um Kobanê) wie dem IS zusammenzutun.

Es ist also eine Diskursverschiebung, die stattfindet. Kurd*innen werden, auch das ein alter antikurdischer Rassismus, mit Terroristen gleichgesetzt, während Islamisten legitime Verbündete sind. Dabei sind diese islamistischen Verbündeten eine Bedrohung – auch für Europa und alle, die für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen.

Vor allem aber führt Erdoğan einen Vernichtungskrieg gegen die Kurd*innen. Nicht etwa „berechtigte Sicherheitsinteressen“ sind hier der Antrieb, wie es die Bundesregierung verlauten ließ, sondern Hass.

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Kolumnistin, Autorin, Lyrikerin und Journalistin. Schreibt zusammen mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress

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