US-Autorin zu Politik und Scham: Ein Scheißgefühl

„Scham“ gehört zu uns – und sie ist präsenter denn je: So sind „alternative Fakten“ etwa die ultimative Form der Schamverdrängung.

Jemand hält sich einen gelben Luftballon vor das Gesicht

Sich verstecken – bringt's das? Foto: imago/imagebroker

Kann man das Thema kleiner machen, verträglicher? Nein, aber es kann verträglicher werden. Nur nicht von Anfang an.

Scham ist ja nicht bloß eine gesteigerte Form der Peinlichkeit. Sie ist eine Vernichtung. Die Scham ist ein Biest, weil sie die eigene Existenz in Zweifel zieht. Existenzielle Scham, in der Psychologie bisweilen „Urscham“ genannt, läuft auf die Frage hinaus: Habe ich ein Recht zu existieren? Und die Antwort, die sich in diesem Moment am wahrsten anfühlt ist: nein.

Die amerikanische Psychoanalytikerin Helen Block Lewis, die in den sechziger Jahren als eine der Ersten über die zentrale Rolle der Scham schrieb, hat dazu gesagt: „Was fordert denn die Scham? Dass man ein besserer Mensch ist, oder nicht hässlich, oder nicht dumm? Das Einzige, was im Moment der Scham angebracht erscheint, ist, nicht zu existieren. Genau so beschreiben es die Leute: ‚Ich könnte mich in ein Loch verkriechen, ich könnte im Boden versinken, ich könnte sterben.‘ Es ist derart schmerzhaft.“

Die Scham ist also ein recht hässliches Gefühl, die Mechanismen der Abwehr sind meist gut entwickelt. Aggression etwa oder Perfektionismus. Der häufigste Mechanismus aber, sagt die nordamerikanische Schamforscherin Brené Brown, ist, andere zu beschämen. Brown hat in den letzten acht Jahren drei Bücher über Scham geschrieben, die alle auf der Bestsellerliste der New York Times standen. Ihren TED Talk „Die Macht der Verletzlichkeit“ haben mittlerweile 28 Millionen Leute gesehen. Was angesichts des Themas bemerkenswert ist.

Die Scham verstehen lernen

Scham hat eine Aktualität, und eine neue dazu. Was seit dem Wechsel von Obama zu Trump den politischen Diskurs prägt, ist die Logik der Scham. Beschämung wird eine akzeptable Strategie. Da ist die Phrase „very important people say“, die diskursiv Macht und Erfolg per se recht gibt. Da sind die aburteilenden Tweets. Das Frauenbild, in dem ein Haar am falschen Ort ein grand horreur ist und der akzeptable Körper ein schma­ler Grat. Die Logik der Scham: zu glauben, man könne andere mit ihr zum Schweigen bringen – was Steve Bannon direkt benannt hat: „Die Medien sollten peinlich berührt und erniedrigt sein und den Mund halten“, wobei in „they should be humiliated“ die Aufforderung, die Presse zu beschämen, gleich mitschwingt.

Brené Brown hat das unpopuläre Thema „Scham“ popularisiert, weil sie sehr persönlich darüber spricht – unverschanzt. Brown erzählt in ihrem TED-Talk davon, wie sie ein paar Jahre zuvor mit ihren eigenen Forschungsergebnissen kollidiert ist. Ihr Plan, als Forscherin und als Privatperson, war: Scham verstehen, Scham zum Verschwinden bringen. Was sie in ihren Interviews herausfand, sah anders aus: Man muss die Scham aushalten und die eigene Verletzlichkeit nicht weghaben wollen, sondern quasi umarmen – nicht einmal, sondern immer wieder. Brown nahm sich eine Auszeit, eine Therapeutin und nannte die Sache, was sie war: „breakdown“, ein Zusammenbruch.

Das, was eine Gesellschaft für schämenswert hält, verändert sich, mitunter rasant. Die Gründe der Scham sind zutiefst kulturell. Heute ist das: Scheitern, Schwäche zeigen. Und: „Sex“ und „Altern“. Oder der Körper, der in irgendeiner Weise nicht der Form entspricht, die er haben soll.

Vor allem dort kann man sich fragen: Ist die Scham angemessen, proportional zum Auslöser? Aber die Proportionalität ist so eine Sache bei der Scham. Das Gefühl kommt ja nicht durch den Auslöser in die Welt, es ist schon vorher da. Es gibt verschiedene Theorien, die gängige entwicklungspsychologische Annahme aber ist, dass Scham als Erfahrung im zweiten Lebensjahr entsteht – dann, wenn man beginnt, sich als abgegrenzt von anderen zu erfahren, aber noch bevor souveräne Sprachfähigkeit und eine Beherrschung des Körpers da ist. Was das Gefühl des Ausgeliefertseins in der Scham erklärt. Scham wird als etwas Totales erfahren, so, als ob man im eigenen Körper einfriert, neurobiologisch der Angst ähnlich, die lähmt. Das Schamgefühl hat dabei eine Funktion: Es sichert die personalen Grenzen, werden sie verletzt, resultiert das in mehr Scham.

Differenz zwischen Ich und Über-Ich

Genau das ist das Perfide an der Scham: dass es die Beschämung nicht braucht. Oder anders: Man beschämt sich auch selbst. Die Scham ist immer auch die Perspektive des vorgestellten anderen, also: der internalisierte Blick von außen. Es braucht keinen missgünstigen Fingerzeig. Die innere Enge steht dabei in einem paradoxen Verhältnis zur äußeren Freiheit: Schaut man die Lebensentwürfe richtig an, für die man sich entscheiden kann, ist die individualistische spätmoderne Gesellschaft so frei wie noch nie. Dass sie in ihrem Kern von einer gnadenlosen Enge ist, macht die Scham. Man schafft sich eine innere Provinz und zurrt sich selber fest.

Die andere Seite: Das Schamgefühl hat eine Funktion. Scham schützt das eigene Geheimnis, macht Intimität möglich. Schuld wird verstanden als Differenz zwischen Ich und Über-Ich. Scham ist die Differenz zwischen Ich und Ich-Ideal. Sie ist, in Grenzen, auch ein Abgleich mit den eigenen Werten. Unter der Perspektive sind die „alternativen Fakten“ die ultimative Form der Schamverdrängung. Brené Brown sagt: Je weniger wir über Scham sprechen, desto mehr wird sie zum Problem. Die Scham isoliert, weil alle glauben, sie seien mit ihrem Makel die Einzigen. Nur in dieser Isolation choreografiert die Scham die Existenzen. Man muss durch sie hindurch, nicht um sie herum. Aber was heißt das konkret?

In ihrem Buch „Rising Strong“, das 2016 in deutscher Übersetzung erschienen ist, interessiert Brown genau der Moment, in dem man im Griff der Scham ist. Sie fragt: Was passiert gleich danach? Brown sagt: Man erzählt sich eine Geschichte darüber. Sie meint damit: Man erklärt sich selbst, was passiert und warum es passiert. Das neurobiologische Aktivierungsmuster, das Leuten das Gefühl gibt, grundlegend defizient zu sein, wird mit einer Intellektualisierung versehen. Warum es zentral ist, auf diese Geschichte Einfluss zu nehmen, ist klar: weil die „Story“ darüber entscheidet, wie es mit der realen Geschichte weitergeht.

Brown ist nicht die Erste, die sich mit diesen Aspekt der „Story“ beschäftigt. Sich des ständigen inneren Kommentars gewahr zu werden, ist zentraler Bestandteil vieler Meditationstechniken – „monkey mind“ heißt der umherspringende Geist dort. Um diese ­Lücke zwischen Fakt und Fiktion zu wissen, ist hilfreich in der Scham. Weil sich das Gefühl so wahr anfühlt, gibt es an der Geschichte keinen Zweifel. Brené Brown nennt das „Konfabulation“ – eine Lüge, die man für wahr hält und im Bewusstsein von Wahrheit erzählt. Diese Geschichte, sagt Brown, die Rationalisierung der Scham, ist eine Erfindung. Was sie vorschlägt: die eigene Interpretation als solche zu benennen, Freunden, Geliebten, Partnerinnen gegenüber. Konkret: „I am feeling …, and the story I am making up is …“

Opfer von Körperidealen

„Rising Strong“ arbeitet mit persönlichen Beispielen, anders könnte Brown die feine Dynamik der eigenen Narration nicht nachvollziehen. Genau da kommt die kulturelle Komponente der Scham wieder ins Spiel. Sie ist immer soziologische Prägung. Allerdings: Auf welchen Auslöser sich diese neurobiologische Verschaltung draufsetzen kann, kann einen nachdenklich machen.

Man fragt sich: Wovon willst du dich eigentlich beschämen lassen? Es geht um das, was eine Kultur einem als schämenswert nahelegt: Wie sehr ist man Opfer von Körperidealen, von der Version des guten Lebens oder dem Diskurs um Sex?

Brené Brown hat die Haltung, die ihr in den Forschungsinterviews begegnet ist, die „Kultur des Mangels“ genannt. Aus ihrer Sicht ist das Problem nicht, dass zu viele Leute mit Grandiositätsfantasien unterwegs sind, wie in der Narzissmusdebatte gern unterstellt wird. Aus ihrer Sicht ist das Problem, dass sich die meisten mit ihrer Existenz im Minus fühlen. Nicht erfolgreich genug, um relevant zu sein; nicht schön genug, um unverzichtbar zu sein; nicht außergewöhnlich genug, um zu zählen. Es reicht nie, das ist das Problem. Die Angst vor der gewöhnlichen, der unspektakulären Existenz: Das wäre dann die kulturelle Matrix der Scham.

Das im Kopf, schaut man noch einmal darauf, was die Themen der Scham heute sind. Der Körper. Sex. Altern. Fast ist es so: Man schämt sich für das Leben selbst. Das kann einen heillos zornig machen. „Das Siegel der erreichten Freiheit: sich nicht mehr vor sich selbst schämen“, schreibt der Psychoanalytiker Irvin Yalom. Auf die Lücke schauen, genau dort die eigenen Fiktionen wieder einfangen, ist kein schlechter Anfang.

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