Übersetzer im Exil: Flucht vor den Taliban

Weil sie in Afghanistan für die Bundeswehr übersetzt haben, mussten sie vor den Taliban fliehen. Es bleibt die Angst um jene, die sie zurückgelassen haben.

Weil sie in Afghanistan für die Bundeswehr übersetzt haben, mussten sie fliehen. Jetzt fordern sie Unterstützung von den Behörden: Afghanische Dolmetscher Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Es ist der 29. September, dreiviertel sechs. Im Haus von Asadullah Rezwans Eltern klingelt das Telefon. Der Vater greift zum Hörer, nur zögerlich, man muss vorsichtig sein in diesen Tagen. Aber es könnte ja Asadullah sein, der da anruft: Jeden Tag meldet sich der 23-Jährige, der seit acht Monaten in Deutschland lebt, bei seiner Familie in Kundus. Aber an diesem Abend ist nicht Asadullah am Telefon. Eine fremde Stimme erklingt am anderen Ende der Leitung: „Wo ist dein Sohn?“, fragt sie. Immer wieder. „Du wirst sterben“, sagt sie dann und weiter: „Du, deine ganze Familie. Wir werden euch finden, wir werden euch töten.“

Zwei Tage später, rund 6.000 Kilometer entfernt. Asadullah Rezwan steht vor dem Hamburger Rathaus, in seinen Händen hält er einen weißen Papierzettel. „Wir möchten unsere Familien in Sicherheit haben“, steht darauf. Der junge Mann spricht mit leiser Stimme, als er von dem Drohanruf bei seinen Eltern erzählt. Nur seine Augen verraten die Angst: Immer wieder driftet sein Blick ins Leere.

„Meine Eltern haben Türen und Fenster verbarrikadiert, sie verlassen ihr Haus nicht mehr, haben keinen Kontakt zur Außenwelt. Sie sind umzingelt von den Taliban“, sagt Asadullah. Am Mittwochabend habe er ein letztes Mal mit seinem Vater telefoniert. Inzwischen ist jede Verbindung nach Kundus abgebrochen, die Stromversorgung funktioniert nicht mehr, seit die Gefechte zwischen Regierungstruppen und Taliban wieder stärker geworden sind. „Ich weiß nicht, ob meine Eltern leben oder bereits tot sind“, sagt Asadullah, die Hände zu Fäusten geballt. „Und ich kann nichts tun, ich komme nicht zur Ruhe.“

Sorge und Ohnmacht

Die Sorge um die Angehörigen, das Gefühl der Hilflosigkeit verbindet den jungen Afghanen mit einem Dutzend Landsleute, die sich an diesem Nachmittag auf dem Hamburger Rathausmarkt versammelt haben. Sie kommen aus der Provinz Kundus, aus der Stadt Masar-i-Scharif oder der Nachbarprovinz Tachar. Sie alle haben in Afghanistan als Dolmetscher für die Bundeswehr gearbeitet, waren an der Seite deutscher Offiziere, haben zwischen ihnen und der afghanischen Nationalarmee oder der Landbevölkerung übersetzt.

Eine Arbeit, verbunden mit hohem Risiko: Wer für die ausländischen Truppen arbeitet, gilt in den Augen radikaler Islamisten als Kollaborateur. Immer wieder bekamen Übersetzer Todesdrohungen, vor allem nachdem sich die Sicherheitslage im Land mit dem Abzug der Nato-Kampftruppen verschärfte.

Am Ende mussten die Männer Afghanistan verlassen. Familienmitglieder, Freunde blieben zurück. Und ist die Lage für Zivilisten in der umkämpften Taliban-Hochburg Kundus derzeit ohnehin dramatisch, gelten die Angehörigen der ehemaligen Übersetzer nochmal als besonders gefährdet: Gerade ihnen haben die Taliban Vergeltung angedroht.

„Wichtige Arbeit für die Deutschen“

Organisiert hat den stillen Protest vor dem Rathaus der 28-jährige Aliullah Nazary. Er wirkt ernst und konzentriert, jedes Wort scheint mit Bedacht gewählt. Vier Jahre hat er für die Bundeswehr gearbeitet, im Februar 2014 ist er nach Hamburg gekommen, bereits 2013 hatte er seinen Ausreiseantrag gestellt, bei den Truppen in Kundus. Heute lebt er in einer kleinen Wohnung in Hamburg-Eidelstedt. Die hat er sich selbst organisiert, genau so wie die Teilnahme an einem Sprachkurs. Mit Unterstützung der Bundeswehr konnte er nach Deutschland reisen, Asyl beantragen, Hilfe bei den vielen Behördengängen hätte er sich dennoch gewünscht, sagt Aliullah.

Seit Monaten schon wendet er sich immer wieder an die Presse, richtet dramatische Appelle an die Bundesregierung. „Wir haben wichtige Arbeit für die Deutschen geleistet, sie waren auf uns angewiesen“, sagt er. „Dass unsere Familien wegen unserer Arbeit vielleicht sterben müssen, ist einfach furchtbar.“ Er bange vor allem um seinen Onkel, der noch in Kundus lebt. Seine Eltern, den jüngeren Bruder und die jüngere Schwester konnte Aliullah vor sechs Wochen nach Deutschland holen, heute lebt die Familie auf dem Wohnschiff „Transit“ im Hafen von Hamburg-Harburg. „Ich bin sehr, sehr dankbar“, sagt der 28-Jährige. „Dass wir zusammen an einem Ort sind, ist ein großes Glück.“

Fast 1.700 ehemalige afghanische Hilfskräfte suchen derzeit Schutz in Deutschland. Laut dem Bundesinnenministerium wird nur jedem zweiten Antrag zugestimmt. Mehr als 600 frühere Mitarbeiter konnten bisher nach Deutschland einreisen und hier Asyl beantragen. Andere warten vergebens auf eine Ausreiseerlaubnis. Die sogenannten Gefährdungsanzeigen werden in langwierigen Verfahren überprüft, die Bearbeitung von Visaanträgen kann sich über Monate hinziehen. „Wir sind da einfach zu langsam“, hatte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) im April vor dem Bundestag zugegeben. „Wir haben diesen Männern und Frauen in Afghanistan vertraut, wie sollten ihnen jetzt auch weiterhin vertrauen.“

Ende 2013 wurde ein einheitliches Verfahren eingeführt, wonach die afghanischen Helfer in drei Gefährdungsstufen – „konkret“, „latent“ oder „abstrakt“ gefährdet – eingeteilt werden. Wer in die ersten beiden Kategorien fällt, soll eine Aufnahmezusage und schließlich ein Visum für Deutschland erhalten können. Bei der Beschleunigung der Verfahren aber hapert es offenbar noch immer.

Das Problem ist der Nachweis der Bedrohung

Ebrahimi Zaman etwa sorgt sich um seinen jüngeren Bruder: Der hatte von 2007 bis 2012, so wie er selbst, für die Bundeswehr als Übersetzer gearbeitet. Während Ebrahimis Asylantrag im vergangenen Jahr nach wenigen Monaten stattgegeben wurde, wartet sein Bruder seit über einem Jahr vergebens auf eine Ausreiseerlaubnis. Er wisse nicht, woran diese Verzögerung liege, sagt Ebrahimi nun, sein Bruder bekomme von den Behörden vor Ort keine Informationen.

Irgendwann hat Ebrahimi sich an die Bundeswehr in Deutschland gewandt, E-Mails geschrieben, angerufen. Doch bis heute habe er keine Antwort bekommen, sagt der 23-Jährige. Seine Mutter und zwei weitere Geschwister leben noch in Kundus, aber schon seit drei Tagen hat Ebrahimi nichts von seiner Familie gehört: „Ich kann nichts mehr essen, nicht schlafen, ich habe nur noch Angst.“

Ein Problem: Damit Familie, Freunde oder Kollegen ausreisen können, muss eine akute Bedrohung nachgewiesen werden können. Doch nicht immer kündigen die Taliban einen Angriff vorher mit ausdrücklichen Drohungen an. Der Tag, der für Asadullah Rezwan alles veränderte, kam sehr plötzlich, ohne jede Vorwarnung: Auf offener Straße wurde er Anfang des Jahres in Kundus von einer Gruppe vermummter Männer überfallen, mitten am Tag. Sie kamen aus einem Hinterhalt, stachen mit Messern auf ihn ein. Nur weil Sicherheitskräfte dazwischengingen, überlebte er. Die Narbe an seiner rechten Hand erinnert Asahdulla noch heute an den Tag, der ihm schließlich die Ausreise aus Afghanistan ermöglichte.

Fragt man nach ihrer Motivation, für die Bundeswehr zu arbeiten, lautet die Antwort der ehemaligen Dolmetscher ähnlich. „Ich liebe mein Land“, sagt Asadullah, „und wollte beim Wiederaufbau helfen.“ Er habe großes Vertrauen in das deutsche Militär gehabt, gehofft, dass die Truppen Frieden und Sicherheit bringen. Diese Hoffnung habe er verloren: „In Kundus ist die Hölle losgebrochen. Es gibt keine Sicherheit mehr, nur noch Chaos.“

Ende Dezember vergangenen Jahres ging der Kampfeinsatz der Bundeswehr zu Ende. Nach gut 13 Jahren aber zu früh, wenn es nach Aliullah Nazary geht: „Für Afghanistan war diese Entscheidung nicht gut“, sagt er, wieder um die richtigen Worte bemüht. „Die afghanische Regierung ist schwach, sie hat viele Fehler gemacht. Wäre die Bundeswehr noch in Kundus, hätten die Taliban die Stadt nicht wieder einnehmen können. Viele Zivilisten fühlen sich allein gelassen.“

Das Heimweh bleibt trotz allem

Für Aliullah ist klar: Seine Zukunft liegt in Hamburg, hier will er sich ein neues Leben aufbauen. „Ich will mein Deutsch verbessern, studieren, unabhängig in Frieden leben“, sagt er. „Ich vermisse mein Land, aber unter diesen Umständen kann und will ich dort nicht leben.“ Asadulla Rezwan kann ein Gefühl trotz allem nicht unterdrücken: Heimweh. „Wenn ich könnte, würde ich zurückgehen“, sagt er. „Afghanistan braucht doch junge Leute wie mich. Sonst ist das Land verloren.“

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