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Ukrainische Dichterin Oksana MaksymchukZwischen Lyrikboom und Gleitbomben

„Tagebuch einer Invasion“, ein Gedichtband der ukrainischen Autorin Oksana Maksymchuk formt aus dem Schrecken des Krieges griffige Poesie.

Eine Frau sucht in einer Charkiwer U-Bahn-Station Zuflucht vor einem russischen Bombenangriff Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

Die Gefahr abzustumpfen, sie besteht für ferne Betrachter des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine nach dreieinhalb Jahren brutaler Gewalt wohl mehr als je zuvor. Oksana Maksymchuks Gedichte wirken da wie ein Gegengift.

Sie bewahren einen davor, gefühllos zu werden. Zum Teil ist ihre Lyrik deskriptiv und plastisch, man wähnt sich neben dem lyrischen Ich im Luftschutzraum sitzend; dann wieder spielt Maksymchuk gekonnt mit grammatikalischen Bezügen, Wortwiederholungen und mit Zeitformen.

Über das nahezu alltägliche Sterben von Freunden und Verwandten schreibt sie etwa die Zeilen: „Bis es vorbei ist, werden einige von uns / sterben, viele von uns werden zusehen, / wie geliebte Menschen sterben / die meisten von uns werden zusehen, / wie geliebte Menschen zusehen, / wie ihre geliebten Menschen sterben“ (aus: „Trennschärfe“).

Kindsein im Krieg

Und um das Kindsein im Krieg zu greifen und begreifen, braucht ­Maksymchuk ganze fünf Verse: „Draußen spielen / die Kinder Krieg / Krieg spielt mit / den Kindern, wirft sie / herum wie Obst“ (aus: „Spiegelung“). Die Lyrikerin Oksana Maksymchuk ist im west­ukrainischen Lwiw geboren und aufgewachsen. Im Alter von 15 Jahren ging sie mit ihrer Mutter in die USA, später studierte und promovierte sie an der Northwestern University Chicago im Fach Philosophie. Derzeit lebt sie teils in den USA, teils in Lwiw und an anderen Orten in Europa.

Oksana Maksymchuks Poesie

Oksana Maksymchuk: „Tagebuch einer Invasion“, Gedichte. Aus dem Englischen von Matthias Kniep. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2025, 120 Seiten, 24 Euro

In der ukrainischen Literaturszene wurde sie bekannt, als sie 2005 und 2008 zwei Gedichtbände in ihrer Muttersprache veröffentlichte. Maksymchuk hat bereits 2017 die englischsprachige Anthologie „Words for war. New poems from Ukraine“ mit herausgegeben, sie arbeitet zudem als Übersetzerin und hat unter anderem Marianna Kijanowskas fantastischen Gedichtband „Babyn Jar. Stimmen“ ins Englische übertragen.

Die eingangs zitierten Gedichte sind nun in ihrem Lyrikband „Tagebuch einer Invasion“ enthalten, im Original bereits 2024 auf Englisch erschienen („Still City. Diary of an Invasion“). Die insgesamt 87 Gedichte sind chronologisch geordnet und erzählen, wie sich der „große“ Krieg zunächst andeutet und dann ins Bewusstsein schleicht – so handeln die ersten Texte vom Jahreswechsel 2021/22.

Durch die News scrollen

Die Phasen, die man durchlebt, während man realisiert, dass Krieg ist, kann man hier nachempfinden: „Freunde von Freunden fielen / an der Front […] Wir betrauern sie online / bestürzt, erstaunt“. Es sind Gedichte, die ständig Distanz und Nähe zum Kampfgeschehen ausloten, das lyrische Ich scrollt durch die News, der Krieg scheint fern und zugleich nah. Eine Freundin, die postet, dass ihr Haus von einer Rakete zerstört wurde, ist so real wie eine Anzeige vom Pizzaservice, die in der Timeline aufploppt.

Lyrik boomt in der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Bei der Buchhandelskette Ye lagen die Verkaufszahlen von Poesie im ersten Kriegsjahr 2022 zweieinhalbmal höher als vorher. Gedichte von Au­to­r:in­nen wie Jaryna Tschornohus und Serhij ­Zhadan sind nachgefragt. Auch Oksana Maksymchuk liefert eine poetische Antwort darauf, warum diese literarische Form den Krieg so direkt zugänglich macht wie keine andere.

„Vor allem anderen / ist die Welt zuerst ein Gedicht, / das sich aus einer Öffnung heraus entfaltet – / noch nicht jetzt ein Wort, / eher ein tiefes beharrliches Summen, / durchglüht von künftiger Fülle“, schreibt sie in „Ordnungen der Dringlichkeit“. Dass Lyrik sogar imstande ist, auf die Gegenwart während des Schreibprozesses zu reagieren, zeigt sie in diesem kurzen Poem.

Maksymchuks Gedichte sind – in dieser sehr gelungenen deutschen Übersetzung – deshalb so besonders, weil sie präzise und ohne jedes Pathos die Kriegswirklichkeit beschreiben. Gerade die Nüchternheit ihres Stils hat den Effekt, dass man innehält, nachdenklich wird. „Tagebuch einer Invasion“ dürfte jene, die den hohen Stil schätzen, genauso ansprechen wie jene, die Alltagslyrik mögen.

Erstere können in diesem Band Sprachbilder entdecken wie jene von den „Köpfe[n], die wahnsinnig / den Hang der Syntax hinabrollen / in die Kluft eines Gedichts […]“. In den Tiefen der Lyrik Oksana Maksymchuks finden sich Kriegsszenen, wie man sie so noch nie betrachtet hat.

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