Ukrainischer Top-Blogger Igor Bigdan: „Alarmstufe rot!“

Im Osten der Ukraine herrscht Krieg. Informationen sind spärlich. Igor Bigdan, eine Größe in der ukrainischen Bloggerszene, über Politik, Propaganda und Protest.

Vielgelesene Stimme in der Ukraine: Igor Bigdan. Bild: Alex Cheban

taz: Igor, Du hast deinen russischsprachigen Blog ibigdan.livejournal.com vor 10 Jahren gestartet, was war die zündende Idee?

Igor Bigdan: Ich wollte meine Freunde unterhalten, indem ich witzige Texte und Fotos anderer Autoren aus dem Netz kommentierte...

Damit hast du es auf den Bloggerolymp des ganzen postsowjetischen Raumes geschafft. Und zwar im Livejournal, einer Plattform, die damals in Russland enorme Popularität genoss. Warum gerade dort?

Die ukrainische Bloggerlandschaft war damals ziemlich öde. 2004 – 2005 brach in Russland die Zeit der Ernüchterung an. Die Oppositionellen mussten zusehen, wie der Staatsapparat des russischen Präsidenten Wladimir Putin die freie Presse zunehmend vereinnahmte. Die ganze Protestbewegung flüchtete ins Internet, was zu einem wahren Boom in der Blogosphäre führte.

Livejournal war in Russland von Anfang an politisch, da tummeln sich bis heute solche Oppositionellen wie Alexei Nawalnyj [der bekannteste Regimekritiker und Blogger Russlands, Anm. der Redaktion]. Der Kreml hat diese Plattform auch immer genau beobachtet, zumal das Netz als Koordinator für Antiputin-Meetings fungierte.

Die Ukraine hingegen hatte so etwas gar nicht nötig, die Journalisten konnten sich hier frei äußern und es gab eine bunte Medienvielfalt. Als Wiktor Janukowytsch 2010 zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, kam es zum totalen Stillstand, das Internet war da keine Ausnahme.

Igor Bigdan (40) ist ukrainischer Blogger, einer der 20 meistgelesenen Blogger des russischsprachigen Segments des Internets weltweit. Er lebt in Kremenchuk, einer 225.000-Einwohner-Stadt in der Zentralukraine. Von September 2012 bis März 2014 war er Direktor der Livejournal-Vertretung in der Ukraine.

Das änderte sich abrupt mit dem Maidan vor einem Jahr ...

Ja! Im Prinzip spielte sich in Kiew das Gleiche wie in Moskau ab, nur zehn Jahre später. Es gab zwei Voraussetzungen dafür: der politische Protest der Massen und die Unmöglichkeit darüber zu berichten, weil die Oligarchen sich die Medien mittlerweile untereinander aufgeteilt hatten. Das ukrainische Internet explodierte regelrecht. Es war revolutionär! Eines der ukrainischen Phänomene ist, dass viele Star-Politiker gleichzeitig auch Top-Blogger sind.

Dein Leben hat mit dem Euromaidan eine Wende genommen. Du hast einmal gesagt, du wärest damals über Nacht ein anderer Mensch geworden. Wann war das?

Das war genau vor einem Jahr, am 1. März 2014, als die 2. russische Parlamentskammer, der Föderationsrat, Putin die Legitimation lieferte, russische Streitkräfte in die Ukraine zu schicken. Der Schock sitzt mir immer noch in den Knochen. Faktisch war das eine Kriegserklärung. Ja, es gab Mentalitätsunterschiede zwischen uns, es gab manchmal Reibungen, sogar Alltagschauvinismus, so etwas gibt es überall, aber es spielte sich auf der Ebene gegenseitiger Neckereien ab. Bei all dem blieben wir immer Freunde, gute Nachbarn, auf gar keinen Fall Feinde!

Die Krimannexion war für mich eine Zäsur. Das ist, wie wenn du plötzlich im dunklen Hinterhof vor einem bis auf die Zähne bewaffneten Banditen stehst, da hast du nur zwei Möglichkeiten: entweder abhauen oder kämpfen, obwohl deine Chancen gegen null tendieren. Mit „bewaffnet“ meine ich diese monströse Propagandamaschine, die harmlose Ressentiments zur Staatsideologie aufgeblasen hat. Dem hatte die Ukraine absolut nichts entgegenzusetzen.

Du hast dich für den Kampf entschieden ...

Wer denn sonst, wenn nicht ich? Es gab sonst keinen anderen, der einen gut besuchten Blog genau an der Frontlinie betreibt.

Für wie gefährlich hälst du diese Maschine jetzt?

Alarmstufe rot! Gäbe es keine russische Propaganda, gäbe es diesen Krieg nicht.

Das ukrainische Informationsministerium hat vor kurzem eine Internetarmee ins Leben gerufen. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Das, was uns Ukrainer alle eint, ist das tiefe Misstrauen der Macht gegenüber. Die Mächtigen von heute sind zwar mit der alten Garde nicht mehr zu vergleichen, die Zivilgesellschaft aber bleibt auf der Hut. Dem neuen Ministerium für Informationspolitik haben wir Blogger sofort das Label „Ministerium für Wahrheit“ nach Orwell verpasst, wir wittern die Gefahr einer Zensur. Wobei jedem klar ist, dass es im Krieg ganz ohne Zensur nicht geht. Zum Beispiel spielen bestimmte Kollegen von mir dem Feind in die Hände, indem sie Panik und Hysterie verbreiten. In Kriegszeiten muss so etwas unterbunden werden.

Wie soll das vonstatten gehen?

Das ist es ja gerade. Da es in der Ukraine kein offizieller Kriegszustand ausgerufen wurde, fehlt dafür die gesetzliche Grundlage. Deswegen konzentriert sich das Ministerium vor allem auf die Gegenpropaganda. So feilt man jetzt an einem mehrsprachigen TV-Sender namens „Ukrainian Tomorrow“. Die Idee an sich finde ich klasse. Man darf nicht zulassen, dass der Europäer sein Bild der Geschehnisse in der Ukraine ausschließlich von „Russia Today“ geliefert bekommt.

Wie will man der russischen Propaganda Paroli bieten?

Indem man ungeheure Lügen und Fakes entlarvt. Wie zum Beispiel, als mehrere russische TV-Sender von der Kreuzigung eines Jungen durch die „Kiewer Junta“ in Slawjansk berichtet haben. Und indem man Anstrengungen vieler einzelner Blogger bündelt. Es ist wichtig, den Russen, die zweifeln oder auch Europäern ein unvoreingenommenes Bild zu präsentieren.

Hast du dich von der Internetarmee einberufen lassen?

Eigentlich hab ich es nicht nötig, weil ich ohnehin seit einem Jahr Freiwilliger in diesem Krieg bin. Ich habe mich aber trotzdem registrieren lassen und warte erst einmal ab. Wenn mir das Ganze sinnvoll erscheint, mach ich mit. Wenn es sich als Unsinn entpuppt, dann ohne mich.

Dein Blog wird mittlerweile Millionen Mal im Monat angeklickt. Vor kurzem hast du eine Weltkarte präsentiert. Wenn man ihr Glauben schenkt, gibt es kein einziges Land mehr auf der Welt, wo man deine User nicht findet. Ist es eine besonders schwere Last, beinahe zeitgleich von so vielen Menschen gelesen zu werden?

Der offene Zugang und die blitzschnelle Verbreitung von Information zwingen den Leser dazu, sich eine Meinung zu bilden.

Kannst du das an einem Beispiel verdeutlichen?

Ich habe Texte zur damals umkämpften Stadt Debalzewe gepostet und die Meinung vertreten, dass der Rückzug der ukrainischen Armee trotz der hohen Verluste eine strategisch richtige Entscheidung war. Andere Blogger waren der Meinung, es wäre eine klare Niederlage gewesen. Der Leser war gezwungen, sich mit beiden Standpunkten auseinanderzusetzen.

Haben die Ereignisse des letzten Jahres und deine Position Einfluss auf dein Business gehabt?

Ja, meine Werbeeinnahmen sind eingebrochen. Bis dahin saßen 95 Prozent meiner Werbeträger in Russland, jetzt kümmere ich mich um ukrainische Kundschaft. Mein Auditorium hat sich grundlegend gewandelt. Wenn vor einem Jahr 70 Prozent der Leser aus Russland und nur 15-20 Prozent aus der Ukraine stammten, so ist das Verhältnis heute 50 zu 50.

Was machst du sonst, außer 10-12 Stunden am Tag Internetseiten zu durchforsten?

Im Moment? Ich schreibe an einem Projektantrag für eine Zusammenarbeit mit einem großen Reiseunternehmen und kümmere mich mit Hochdruck um die Gründung einer Assoziation unabhängiger ukrainischer Blogger. Diese brauchen wir, um unsere Interessen nach außen vertreten zu können.

Stell dir vor, du würdest jetzt einen Blogeintrag für Deutsche posten. Was würde drin stehen?

Ich wünschte, ihr wüsstet, dass wir in diesem Krieg – allein, ohne euch – verloren sind.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.