Erinnerungskultur: Geschichte auf dem Gehweg

Keine Form des Gedenkens ist im Alltag so präsent wie die Stolpersteine für die NS-Opfer. In Bremen stand das Projekt jedoch kurz vor dem Ende. 

Lange unerwünscht: In Göttingen werden die ersten Stolpersteine verlegt. Bild: dpa

BREMEN taz | Am Dienstag werden in Göttingen die ersten „Stolpersteine“ auf öffentlichem Grund verlegt. Sie sollen an Mathilde und Leopold Katz erinnern: 1942 wurden sie ins Warschauer Ghetto deportiert und dort ermordet. Göttingen verlegt so spät, weil sich die jüdische Kultusgemeinde Südniedersachsen bislang strikt gegen die im Gehweg eingelassenen Tafeln verwahrt hatte.

In Bremen hingegen, wo schon 633 Steine liegen, wird nun der erste wieder ausgegraben. Die neuere Forschung wirft ein Zwielicht auf den Gewürdigten, den Wehrmachtsgeneral Hans Emil Otto Graf von Sponeck.

Die Stolpersteine, das weltweit größte dezentrale Denkmal, sind ein Projekt voller Ungleichzeitigkeiten, zunehmender Widersprüche – und ungebremster Wirkung. Sie wachsen ins Stadtbild hinein, tauchen an immer neuen Orten auf, konfrontieren Anwohner mit den Schicksalen längst verschwundener Vormieter und Nachbarn. Sie sind auch in die Gesellschaft hineingewachsen.

Da gibt es den früheren Buchhändler, der nun seine Freizeit im Staatsarchiv verbringt, um minutiös die Biografien der Betroffenen zu recherchieren. Da gibt es den Floristen, der immer die Rosen für die Verlegungen spendet. Es gibt Stolperstein-Paten, die mit 120 Euro die Finanzierung eines Steins und mit ihrem persönlichen Einsatz dessen Pflege übernehmen. Und es gibt den Drogisten im Bremer „Viertel“, der ihnen die dafür benötigte Politur schenkt.

Doch gerade in Bremen stand das Fortbestehen des Projekts bis vor wenigen Tagen auf der Kippe: Die örtlichen Organisatoren müssen sich intensiv mit Gunter Demnig auseinandersetzen, dem verdienstvollen Erfinder der Stolpersteine.

Der mag sich in sein Projekt, das mittlerweile allerdings auch zum Recherche- und Betreuungsprojekt vieler Hundert Ehrenamtlicher geworden ist, nicht reinreden lassen. Schließlich handele es sich um ein Kunstprojekt, und diese Kunst hat einen Urheber: ihn selbst.

Der Ärger mit Demnig hat einen strukturellen Hintergrund. So lange hauptsächlich jüdische Deportierte und Mitglieder anderer definierter Gruppen geehrt wurden wie Zeugen Jehova, Homosexuelle und Sinti, musste man sich weder über den „Opferstatus“ auseinandersetzen noch über die Frage, welche (wenigen) Worte in die 92 Quadratzentimeter große Messingplatte gestanzt werden.

Es sind die Lebensdaten sowie die Orte von Geburt, Deportation und Ermordung, in der Regel ein KZ. Die Biografie ist dann im Netz oder in Print-Publikationen nachzulesen. Seit Kurzem tauchen auf den Tafeln jedoch Begriffe wie „Rassenschande“, „arbeitsscheu“ und „Volksschädling“ auf. Eine entsetzte Hamburgerin sah ihre Großmutter als „Gewohnheitsverbrecherin“ tituliert. Die Nazi-Begriffe, natürlich in Anführungszeichen gesetzt, stammen aus den Todesurteilen der Betroffenen – aber kann das heutzutage jeder richtig einordnen?

Demnig hat für Hamburg nach zähen Gesprächen nun zugesichert, künftig ein distanzierendes „sog.“ vor die NS-Worte zu setzen. Ob das ausreicht? Ein ebenso großes Problem besteht ohnehin darin, dass er zunehmend Steine für Überlebende setzt, auch der zweiten Generation. Das kann zwar zum Zusammentreffen zerrissener Familien führen – viel öfter aber wollen Überlebende keinesfalls auf dieselbe Art geehrt werden wie die Ermordeten. Die subjektiv verspürte „Schuld“ des Überlebthabens ist ohnehin eine schwere Hypothek.

Die Bremer haben erreicht, dass Überlebenden-Steine bei ihnen nur in Ausnahmefällen verlegt werden – und nie ohne ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen. Der dafür notwendige Rechercheaufwand sei enorm, aber unerlässlich, sagt Barbara Johr. Seit Jahren koordiniert sie in der Bremer Landeszentrale für politische Bildung die Verlegungen. Sie fügt an: „Ohne diese Einigung mit Demnig hätten wir uns aus dem Projekt verabschieden müssen.“

Man glaubt Johr sofort, wie schwer ihr ein solches Ende gefallen wäre. Keine kennt wie sie die Vielzahl der einzelnen Schicksale, fast wirkt es, als spräche sie von einem erweiterten Familienkreis. Sie pflegt Kontakt zu den Nachkommen und kennt alle Bremer Straßen, in denen deren Vorfahren wohnten. „Ich könnte sofort einen Taxi-Schein machen“, sagt Johr lakonisch. In ihrem Büro reihen sich Regalmeter für Regalmeter die Ordner mit den Biografien der Stolperstein-Geehrten.

„Eine Bibliothek des Grauens“ nennt Johr diese Sammlung – eine, die sie nur höchst ungern mit nach Hause nehmen würde, wenn sie in wenigen Monaten in den Ruhestand wechselt: „Diese Geschichten machen Alpträume.“ Unklar ist allerdings die Alternative. Ob ihre Stelle neu besetzt wird, steht noch in den Sternen. In Bremen wären noch rund 900 Steine zu verlegen.

Sechs von ihnen lagern ebenfalls in Johrs Regal: Stolpersteine, die schon mal im Boden steckten. Meist waren falsche Daten der Grund, warum sie wieder ausgegraben wurden: Der Kommunist Georg Bauer starb natürlich nicht am 31. Februar 1945 im Strafbataillon-Einsatz.

Aber nun gibt es auch diesen Wehrmachtsgeneral, Sponeck, dessen Stein in den nächsten Tagen ebenfalls aus der Erde soll, aus inhaltlichen Gründen. Sponeck war Kommandant auf der Krim und rettete mit einem befehlswidrigen Rückzug Tausenden seiner Soldaten das Leben. Er selbst wurde dafür hingerichtet.

Das Leben russischer oder gar jüdischer Menschen war dem General hingegen nichts wert, im Gegenteil: Neuere Forschungen arbeiten heraus, wie aktiv Sponeck am Vernichtungskrieg im Osten beteiligt war – auch Front-Kommandeure hatten Handlungsspielraum. Gerade hat Johr dem Sohn Sponecks, in aller Empathie, mitgeteilt, dass der Stein entfernt wird.

Der Antwort blickt sie bang entgegen. Auch vor Ort in Bremen gibt es heftige Kontroversen um die Frage, ob ein früherer Täter als späteres Opfer gewürdigt werden darf. Der langjährige Leiter der stadtgeschichtlichen Abteilung des Landesmuseums beispielsweise, Heinz-Gerd Hofschen, ist strikt gegen die Stein-Entfernung. „Dann“, sagt er vehement, „kann man Sponeck auch gleich ein zweites Mal erschießen.“ Wenn man nun auch die Generäle verdamme, die wenigstens gegen Ende des Krieges etwas Mutiges und Richtiges taten, werde auch das Gedenken zum 20. Juli obsolet.

Die Sponeck-Kontroverse ist noch nicht einmal die härteste Konfrontation, die durch die Stolpersteine ausgelöst wurde. Um gegen die aktuelle israelische Politik zu protestieren, gruben Jugendliche mit palästinensischen Wurzeln den Stein für einen Juden in Bremen-Blumenthal aus, der 1938 sein Haus verloren hatte. Schon die Verlegung hatte unter Polizeischutz stattfinden müssen.

Doch als die Azubis der Straßenbau-Schule, die in Bremen die Verlegungen durchführen, von dem Vandalismus erfuhren, waren sie sofort wieder zur Stelle – und zementierten sämtliche Blumenthaler Steine kurzerhand ein. Andernorts liegen sie in Sand.

Dass sie regelmäßig beschmiert sind, können aber auch die engagierten Azubis nicht verhindern. Wiltrud Ahlers, bei deren Blumenthaler Stein-Führungen regelmäßig Blumen niedergelegt werden, sagt nüchtern: „Eigentlich sind die Rosen immer zertreten.“

Die Stolpersteine sind ein dezentrales Denkmal, dessen Logik das langsame, stetige Wachsen beinhaltet, ein Wachsen über Jahrzehnte. Dass in Deutschland und 16 weiteren europäischen Ländern bereits 50.600 Stolpersteine verlegt wurden, bedeutet im Umkehrschluss ja auch: Nicht einmal ein Prozent allein der jüdischen Opfer wurde bislang einbezogen. Wie – und wann – soll man da ans Aufhören denken?

Die Verlegepraxis wird von Ort zu Ort sehr unterschiedlich bleiben. Während es in Bremerhaven früher ausschließlich Steine für jüdische Opfer gibt, obwohl etliche Werftarbeiter als Widerstandskämpfer starben, war es Oldenburg von vornherein genau anders herum: Da die dortige jüdische Gemeinde keine Steine will, hat man lange gar nicht verlegt – nun aber mit der Würdigung politischer Opfer begonnen. In Delmenhorst wiederum liegt die Verlegung derzeit auf Eis, weil der Konsens innerhalb der dortigen Gemeinde bröckelte.

Auch Demnig droht gelegentlich mit dem Ende des Projekts, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen erweitert werde. „Wir wurden über die Presse erpresst“, sagt Karljosef Kreter von der städtischen Dienststelle Erinnerungskultur in Hannover. Demnig habe medial verkündet, ohne Überlebenden-Steine werde dort gar nicht mehr verlegt. Man gab nach, „damit das hier kein Torso bleibt“, wie Kreter sagt.

Mit 302 Steinen ist erst ein knappes Zehntel der Ermordeten berücksichtigt. Lieber würde sich Kreter wie bisher bei den Stolpersteinen auf Menschen fokussieren, für die es keinen Grabstein gibt. „Wenigstens haben wir erreicht“, sagt er, „dass wir keine Steine für noch Lebende verlegen.“

Demnig verändert und verordnet die Rahmenbedingungen, was oft für Unmut sorgt. Es ist kein Zufall, dass nun auffallend viele Steine für Junggesellen und andere Kinderlose verlegt werden – zu denen oft auch Euthanasie-Opfer zählen.

Doch nicht nur in Bezug auf Überlebende und Opfer der politischen Justiz, auch bei denen der Euthanasie kommt es gelegentlich zu Irritationen. Es sind Fälle bekannt, wo Angehörige bei der Verlegung fassungslos mit ansehen mussten, wie die Krankenakte der Großmutter von Hand zu Hand ging.

Es gibt misslungene Verlegungen, es gibt Streit, und es gibt die vielen, vielen Steine, die in aller Stille ihre Wirkung entfalten. Wer mit seinen Kindern durch die Straßen geht, dem bieten sie Gelegenheit, über Geschichte zu sprechen, sie machen auf Geschichten aufmerksam, für die es sonst keinen Erzählanlass gäbe. Die Steine lassen nach dem Haus dahinter fragen: Wurde es arisiert? Wer ersteigerte den Hausrat?

Demnig hat mit den Stolpersteinen eine großartige Form gefunden, um Geschichte in den Alltag zu integrieren. Nun aber müssen immer wieder Wege gesucht werden, damit der Initiator nicht zum Irritator wird.

Mehr über Stolpersteine, Kunst und Gedenken finden Sie in Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen in der gedruckten Ausgabe der taz oder am eKiosk.

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