Der Rhein fließt bei Nacht im Vordergrund, im Hintergrund die hellbeleuchteten Chemie-Anlagen von BASF

Foto: Udo Herrmann/imago

Umweltverschmutzung von Flüssen:Mein Ökosystem wird zu McDonald's

2022 hat eine Lagune in Südspanien Rechte bekommen. Was wäre, wenn auch der Rhein seine Verschmutzer verklagen könnte? Ein Gedankenexperiment.

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1.4.2023, 19:25  Uhr

Ihr Menschen wisst, wie ihr mir wehtun könnt. Ihr buddelt, ihr pumpt, ihr verdreckt mich. Wo ich mich abwechselnd links und rechts in die Kurve legte, habt ihr mich begradigt und verkürzt. Ihr habt mir die Arme abgeschnitten, mich von meinen Bächen und Auen getrennt. In ein Korsett habt ihr mich gezwängt, damit ich nicht über die Ufer trete – und um mich schiffbar zu machen. Das ist es, was für euch zählt.

Gleichzeitig scheint ihr mich zu lieben. Ihr spaziert in eurer Freizeit mein Ufer entlang, setzt euch auf Parkbänke und starrt auf meine Haut. Es entspannt euch offenbar. In der Nähe meiner Quelle taucht ihr angeschwollene Sommerfüße in mich ein und ruft: „Wia schön isch der Rhi!“ Bei Kilometer 683 sitzt ihr auf den Rheinterrassen, prostet euch mit hohen, schmalen Biergläsern zu und seufzt: „Nä wat es dat schön!“

Ihr schreibt Gedichte über mich, bedruckt Wandteller mit meinem Verlauf oder verschickt „Grüße vom schönen Rhein“ per Postkarte. Junge Männer singen von Heimweh und „ich will mal wieder am Rhein stehn, einfach hineinsehn“. Ist das alles nur geheuchelt? Eure Leidenschaft hört an der Wasseroberfläche auf.

Ihr habt aus mir eine Abwasserrinne gemacht

Es muss etwas anderes geben, dass euch wichtiger ist, das bekomme ich seit mehr als 170 Jahren zu spüren. Damals wurden die ersten großen Fabriken an meinem Ufer gebaut. Kurz darauf hieß es, dass Teile von mir „geopfert“ werden müssen. Ihr habt eine Abwasserrinne aus mir gemacht, weil sonst Profite in Gefahr seien. Eine Opfergabe für das Wirtschaftswachstum.

Heute werden die Abwässer geklärt. Aber gemessen an der Energie, mit der ihr Dreck in mich reingepumpt habt, sind eure Versuche, die Natur zurückzuholen, zaghaft.

Ich habe mitbekommen, wie ihr es mit guten Absichten haltet: Im Jahr 2000 hat die Europäische Union einen Beschluss gefasst, die Wasserrahmenrichtlinie. Damit verpflichteten sich die Staaten, alle Gewässer bis 2015 in einen „guten Zustand“ zu bringen. Gemessen wird das zum Beispiel an der chemischen Zusammensetzung des Wassers. Und daran, wie viele Fische und Algen es gibt. Im vergangenen Jahr, sieben Jahre nach dem eigentlichen Fristende, wurden zehn Prozent meines Wassers als gut eingestuft. Mehr nicht.

Deutschland hat eine Verlängerung bis 2027 beantragt. Ex­per­t:in­nen sagen trotzdem: Auch bis zur nächsten Zielmarke in vier Jahren ist es nicht zu schaffen, die übrigen 90 Prozent in einen guten Zustand zu bringen. Ein Drittel wäre vielleicht möglich. Damit soll ich leben? Dass ihr es vielleicht schafft, dass es einem Drittel meines Wasserkörpers gut geht?

Würde ich doch durch Kanada fließen

Ihr habt entlang meines Flusslaufs einen Wettbewerb der Superlative gestartet: Rotterdam hat den größten Seehafen Europas, Duisburg den größten Binnenhafen der Welt. In Ludwigshafen kühlt der weltweit umsatzstärkste Chemiekonzern sein Werk mit meinem Wasser. Und das soll so bleiben?

Als ich im vergangenen Sommer extrem wenig Wasser führte, sprach BASF-Manager Uwe Liebelt von einem „strategischen Standortnachteil“ für die Wirtschaft. Für mich ist es ein Standortnachteil, dass ich quer durch die Industrienation Deutschland fließe. Führte mein Weg durch das kanadische Hinterland, vielleicht würde ich in Ruhe gelassen werden. Stattdessen wird an einer weiteren Vertiefung zwischen St. Goar und Mainz gearbeitet. „Abladeoptimierung“ nennt ihr das, wie nett.

Und ich kann nichts dagegen tun. Das Mar Menor schon. Die Salzwasserlagune in Südspanien wurde 2022 zur juristischen Person erklärt. Das macht mich neidisch. Was wäre, wenn ich auch Rechte hätte? Das frage ich mich, wenn ihr wieder an mir herumgrabt und euren Dreck in mich kippt. Was wäre, wenn ich meine Verschmutzer verklagen könnte?

Der Rhein mit geringem Wasserstand

Der Rhein führte im August 2022 extrem wenig Wasser Foto: Boris Rössler/dpa

Ich würde mich gegen die Vertiefung wehren. Auf 60 Kilometern soll meine Flusssohle stellenweise abgetragen werden, Buhnen werden quer in mich reinragen. Seitenwerke werden eine Art Damm parallel zum Ufer bilden. So soll mein Wasser gerade bei niedrigen Pegelständen in der Fahrrinne gehalten werden. Niedrige Pegelstände, die zu einem größeren Problem werden, weil die von euch verursachte Klimakrise das Wasser knapp werden lässt.

Für Schifffahrtsunternehmen, für Firmen von hier, für die Wirtschaftsmacht Deutschland ist das ein großer Gewinn. Für mein Ökosystem ist es wie eine Herztransplantation und Hüftoperation auf einmal. Auf so eine Idee würdet ihr Menschen bei euch selbst nie kommen. Aber euer Verkehrsminister nennt die Vertiefung das verkehrspolitische Projekt mit dem “größten Kosten-Nutzen-Verhältnis“.

Es stört mich ja nicht, wenn Boote auf mir gleiten. Und ich weiß, dass es für die Natur noch schlechter ist, wenn die Waren nur noch mit LKWs transportiert werden – sie stoßen drei bis fünfmal mehr Kraftstoff pro transportierter Tonne aus. Aber es werden doch längst Güterschiffe gebaut, die flacher im Wasser liegen, niedriges Wasser macht ihnen also weniger aus. Ihr hättet eure Flotten Stück für Stück modernisieren können. Heute sind die deutschen Güterbinnenschiffe durchschnittlich 50 Jahre alt und brauchen eine tiefe Fahrrinne. Dabei wisst ihr schon lange, dass es heißer wird und das Wasser weniger.

Fische werden zerstückelt

Für die Fische ist es gefährlich, wenn ihr die Fahrrinne verengt. Ist mein Wasser im Sommer nicht so hoch, fließt es vor allem in der Mitte, in der Schifffahrtsrinne. Zwischen Schiff und Flusssohle bleibt kaum Platz. Größere Fische, wie Lachse und Meerforellen, werden von den Schiffsschrauben angezogen. Die drehen sich mit rund acht Umdrehungen in der Sekunde. Die Fische werden zerstückelt.

Ihr habt euch noch mehr einfallen lassen, um mich zu zähmen, da seid ihr erfinderisch. Staustufen und Schleusen hindern die Fische daran, flussaufwärts in ihre Laichgründe zu ziehen. Die Turbinen der Wasserkraftanlagen sind selten geschützt. Schwimmt ein Fisch in die Turbine, kommt er filetiert hinten raus. Raubvögel schnappen die Reste schnell weg. Die Spuren werden verzehrt oder weggespült, keiner bekommt etwas mit. Und das ist das Problem. Wenn ein Rotmilan geköpft unter einem Windrad liegt, regt ihr euch auf.

Dabei sind die Fische auch durch den Klimawandel stark gefährdet. Meine Temperatur steigt. Gerade die einheimischen Arten ertragen das schwer. Lachse legen ihre Eier in mein Kiesbett. Aber bei drei Grad mehr vergammeln die Eier. Arten aus dem Schwarzmeerraum, wie die Grundel, sind an die steigenden Temperaturen besser angepasst. Mit dem Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals zogen sie bei mir ein. Jedes Jahr mehr: Krebse, Muscheln, Fische. Langfristig gesehen sterben die Arten, die schon lange hier sind, aus.

Die McDonaldisierung unserer Ökosysteme nannte ein Wissenschaftler diesen Prozess. Wo früher unterschiedliche Gasthäuser Grüne Soße, Graupensuppe oder Schwarzwälder Kirschtorte angeboten haben, werden heute nur noch Pommes frittiert. Ähnlich wie das Essensangebot schrumpft die Vielfalt meiner Fische. Mein Ökosystem wird nicht mehr funktionieren wie bisher.

Natürlich, es gibt auch jetzt schon Organisationen, die sich für mich einsetzen. Zum Glück. Doch hätte ich selbst Rechte, gäbe es ein festes Team von Menschen, die für mich kämpfen und mögliche Entschädigungen in meinen Schutz investieren würden. Ich wünsche mir Schatten entlang der kleinen Zuläufe, in denen viele Arten laichen. An den sonnigen Südhängen der Bäche könnten Hecken und Bäume gepflanzt werden. So kann die Wassertemperatur um bis zu sechs Grad gesenkt werden.

Ich hätte viele Ideen, wie ihr mich entlasten könntet. Bei der Verschmutzung zum Beispiel. Die Abwässer sind zwar nicht mehr so siffig, das schmecke ich: weniger Salze, keine ungeklärten Fäkalien mehr. Trotzdem schlucke ich Sekunde für Sekunde Dreck. In Frankenthal, nördlich von Ludwigshafen, steht eine der größten Kläranlagen Europas an meinem Ufer. Sie gehört dem Chemiekonzern BASF. Flussaufwärts, hinter der Fabrik, schießen pro Sekunde 3.500 Liter Abwasser aus den Rohren. Die Rohre befinden sich versteckt unter der Wasseroberfläche. Bei Sonnenschein, wenn sich das Blau des Himmels auf meiner Oberfläche reflektiert, könnt ihr vom Ufer sehen, wie sich schwarze Abwasserfahnen ins Wasser mischen und Richtung Nordsee ziehen. Schaut ihr hin?

Menschen sitzen auf einer Sandbank im Rhein

Hitze am Rhein im Jahr 2012 Foto: imago

Mikroverunreinigungen hingegen sind unsichtbar, werden aber immer mehr: Pestizide aus der Landwirtschaft, Röntgenkontrastmittel und Psychopharmaka, Hormone, Antibiotika, die durch die Toilette ins Abwasser gelangen. Studien zeigen, dass sich das Verhalten von Fischen durch eine erhöhte Konzentration von Arzneimitteln im Wasser verändert. Wenn mehr Spuren von Beruhigungsmitteln im Wasser landen, verhalten sich Fische zum Beispiel weniger sozial und essen schneller. So kann das Gleichgewicht eines ganzen Ökosystems mit der Zeit gestört werden.

Ich würde Kliniken dazu verpflichten, ihr Abwasser sehr gründlich zu reinigen. Oder noch einfacher: Warum fangt ihr die Schadstoffe an diesen Hotspots nicht auf, bevor sie ins Wasser gelangen? Nach dem Röntgen könntet ihr in einen Becher urinieren, dann würde das Kontrastmittel gar nicht erst ins Abwasser gelangen. Das kann doch nicht so schwer sein.

Chemikalien, die nie verschwinden

Eine euer schlimmsten Erfindungen sind PFAS-Verbindungen, per- und polyfluorierte Alkylverbindungen. Diese Chemikalien liebt ihr, weil sie wasserfest und schmutzabweisend sind, sie trotzen Hitze und Kälte. Also werden Outdoorjacken, Skier, Kochlöffel und Pfannen damit beschichtet. Damit die Regentropfen abperlen und das Spiegelei nicht anklebt. Doch dass PFAS-Chemikalien extrem resistent sind, bedeutet auch, dass sie einfach nicht aus meinem Wasser verschwinden.

Die EU hat den Grenzwert für PFAS deshalb nachträglich nach unten korrigiert. Einige Untergruppen wurden verboten. Andere pustet ihr weiterhin unbekümmert in die Umwelt. Dabei kann eine feuchte Regenjacke nicht so ungemütlich sein, wie wenn das Trinkwasser eines Tages mit den krebserregenden Chemikalien verseucht ist. Warum seid ihr so kurzsichtig, frage ich mich.

2020 einigten sich meine Anrainerstaaten darauf, Mikroverunreinigungen wie diese um mindestens 30 Prozent zu reduzieren – ich hatte Hoffnung. Bis 2040 gibt es dafür Zeit, hörte ich dann. Geht das nicht schneller? Es geht immerhin um einige der weltweit innovativsten Chemiekonzerne. Der Wille scheint euch zu fehlen.

Abwarten, weiter pumpen

Das denke ich auch, wenn ihr vorhandene Lösungen wegignoriert, wie ihr das sonst mit Neujahrsvorsätzen vier Wochen nach Silvester macht. Aktivkohlefilter sind die ungenutzten Fitnessstudiomitgliedschaften der Klärwerke. Mit diesen Filtern lassen sich auch Mikroverunreinigungen aus dem Abwasser filtern. Denn die Kohle hat sehr feine Poren, in denen sich auch kleinste Partikel absetzen. Sie könnten in jedes Klärwerk eingebaut werden. Das passiert aber nicht – weil es teuer ist. Hier stimmt der Kosten-Nutzen-Faktor für euch nicht. Und solange es keine Aktivkohlefilterpflicht gibt, sitzt ihr es aus, das macht ihr immer so.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Auch mit den Einleitgenehmigungen haltet ihr es so: abwarten, weiter pumpen. Hat eine Firma erst mal die Erlaubnis, Abwasser in mir loszuwerden, gilt sie meist für 30 Jahre. Die Niederlande sind mit den Genehmigungen strenger. Alle sieben Jahre werden sie überprüft und können dem neuesten wissenschaftlichen Stand angepasst werden. Warum nicht überall? Weil es Geld kostet? Weil es aufwändiger ist?

Hätte ich Rechte, würde ich euren Kosten-Nutzen-Kompass justieren.

Ich erinnere mich aber auch an gute Momente. 2020 wurde mir ein Geschenk gemacht: Die Atomreaktoren in Fessenheim, auf der französischen Uferseite, wurden abgeschaltet. Das Werk an meinem Seitenkanal hat über 40 Jahre mein Wasser zum Kühlen gezogen und erhitzt wieder zurück gegeben. Durch das Abschalten sprang meine Wassertemperatur sofort um drei Grad nach unten.

Manchmal träume ich von diesem Tag. Ich erzähle euch, wie erholsam das Abschalten der Reaktoren für mich war, welchen Einfluss euer Handeln auf mich hat. In meinen Träumen hört ihr mir zu.

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