Untätige Regierung Armenien: Überleben im Pappkarton

Kürzlich feierte Armenien 25 Jahre Unabhängigkeit. Was ist sie wert, wenn tausende Erdbebenopfer noch immer in Containern leben?

Drei Generationen, ein Container: Sita Zakarjan (rechts), Tochter Gayaneh (links) und die jüngste Enkelin Foto: Tigran Petrosyan

GJUMIRI taz | Der Toilettenpapierverkäufer am Busbahnhof von Gjumri kennt den Weg zu den Containern. „Möchten Sie denn kein Papier kaufen?“, ruft er hinterher. „Nehmen Sie doch mein Mehl!“, kräht ein junger Mann mit dickem Bauch. Vor seinem Laden liegen Säcke, prallvoll mit Weizen- und Dinkelmehl. Zucker und Salz hat er auch.

Hinter all diesen Läden und Ständen beginnt das Containerdorf. In einem der Container wohnt Familie Zakarjan. Sie hat das Erdbeben überlebt, das den Norden Armeniens im Dezember 1988 erschüttert hat, im Epizentrum lag Gjumri, das damals Leninakan hieß, benannt nach dem Revolutionsführer Lenin. Mit 67 Jahren ist Sita Zakarjan die Älteste hier und damit das Familienoberhaupt, seit ihr Mann vor sechs Jahren gestorben ist. Mit ihr wohnen im Container noch ihre beiden Töchter, ihr Sohn, dessen Frau und drei Enkelkinder – zusammen acht Personen. „Man muss aber noch die Ratten hinzurechnen“, sagt Sita trocken und weist auf die Pappwände hin, die den Container isolieren sollen und die von Ratten längst zernagt sind.

Gjumri ist mit etwa 120.000 Einwohner die zweitgrößte Stadt Armeniens. Nach alter Gewohnheit nennen sich die Einwohner aber immer noch „Leninakaner“ nach der alten sowjetischen Bezeichnung. Ihr Armenisch ist ein lokaler, sehr ausgeprägter Dialekt, etwa wie im Deutschen das Bayerische.

Internationale Hilfe

Nach dem Erdbeben wurde Gjumri weitgehend neu aufgebaut. Die britische George-Byron-Schule, der Wohnbezirk Österreich, die Poliklinik Berlin und der Charles-Aznavour-Platz künden davon, dass reichlich internationale Hilfe nach Gjumri floss. Doch dazwischen fallen sowjetische Ruinen ins Auge – und das Containerdorf. Immer wieder verspricht die armenische Regierung, dass die Container bald durch neue Wohnungen ersetzt werden. „Wann denn, verdammt noch mal?“, flucht Sita. Habt Geduld! – Das ist die einzige Antwort, die sie seit 28 Jahren von den Beamten hört. Sita hat Bluthochdruck. Sie bewegt sich zu wenig, sagen die Ärzte. Aber wie soll sie sich in diesem Barackenlager auch bewegen? Nur ihr Sofa neben dem kleinen Fenster mag sie, wo die Sonnen hinein scheint.

Es war der 7. Dezember 1988, als ein heftiges Beben der Stärke 6,9 das Land erschütterte. Mindestens 25.000 Menschen starben. Einige Tage zuvor, so beginnt Sita zu erzählen, packte sie ihre Sachen und reiste mit den zwei kleinen Kindern nach Tbilissi, um Verwandte zu besuchen. Wie hatte sie die georgische Hauptstadt vermisst, wo sie geboren wurde. „Dort steht mein Elternhaus.“ Ihr Mann blieb mit den drei älteren Kindern in Gjumri zurück.

Der Schock fuhr ihr in die Knochen, als sie die ersten Nachrichten aus Armenien hört. Sofort habe sie sich mit den beiden Kindern auf den Rückweg gemacht. Sie kam durch zerstörte Städte und Dörfer. Und je mehr sie sich Gjumri näherte, desto kleiner wurde die Hoffnung, überhaupt noch jemanden lebend in die Arme zu schließen. Schuldgefühle stiegen hoch. Hat sie ihre drei Kinder im Stich gelassen? Oder hat sie im Gegenteil wenigstens das Leben der zwei Kleinen gerettet? Unbeschreiblich war die Freude, als sie vor den Ruinen ihres Wohnhauses ihren Mann erblickt, neben sich die drei Kinder. Sitas Augen werden feucht, als sie das erzählt.

Die Regierung verspricht, dass die Container durch neue Wohnungen ersetzt werden. „Wann denn, verdammt noch mal?“, flucht Sita Zakarjan

Langsam aber wich die Freude der Erkenntnis, dass die Überlebenden vor einer ungewissen Zukunft stehen. Schnell wurden die Container aufgebaut. Dass dieses Leben auch nach 28 Jahren kein Ende findet, dass hätte Sita nicht für möglich gehalten. Noch etwa 4.000 Familien warten in den Containern auf die versprochenen Wohnungen.

Kein Bad

Als Sita den Container zeigt, braucht sie gar nicht aufzustehen, so eng ist es. Der Hauptraum ist vollgestellt mit Betten. Hier im Küchenteil steht das Sofa, das sie so liebt. Zumindest das Klo hat einen separaten Eingang. Und wo ist das Bad? Gayaneh, Sitas Tochter, lächelt über diese Frage, dann zieht sie eine Mappe aus dem Schrank. Hier hat sie alle Eintrittskarten archiviert, die sie für die kostenfreie Benutzung von Bad und Friseursalon erhalten hat. Ein Hilfsprojekt vom Bürgeramt.

Gayaneh erzählt, dass sie 48 Jahre alt ist und unverheiratet. Hier in Gjumri gilt sie deswegen als „unglücklich“. Gayaneh selbst scheint es inzwischen auch so zu sehen. „Ich bin nicht mehr jung und nicht attraktiv“, sagt sie. „Nicht einmal als Putzfrau nimmt man mich.“ Sie habe Schwierigkeiten, einen Job zu finden.

Am 21. September hat Armenien mit Pomp den 25. Jahrestag seiner Unabhängigkeit gefeiert. „Das ist mir so wurscht“ platzt es aus Gayeneh, darauf angesprochen. „Ich brauch weder eine blöde Parade, noch ein Feuerwerk, um Stolz auf mein Land zu sein.“ Eine Arbeit in einer Fabrik wie zu Sowjetzeiten, das wäre ein Grund zu feiern. Damals war Gjumri eine der bedeutendsten Industriestädte in Armenien.

Vieles haben die Zakarjans erlebt, vieles haben sie überlebt. Das einzige, wovor sie immer wieder Angst haben, ist der Winter. Sie müssen sich jetzt wieder um Brennholz kümmern – ein weiterer Kampf mit den Beamten. Nervig und oft aussichtslos, genau wie mit den Fliegen hier im Container. Die Quälgeister schwirren umher und landen viel zu oft im Gesicht. Man muss unablässig mit den Händen wedeln. Gäste verlieren nach zehn Minuten die Geduld. Die Zakarjans aber scheinen gegen diese Plage immun zu sein. Und sie haben ein Talent zum Fliegenfangen. Unerreicht ist darin die junge Arpi. Sie springt auf einen Stuhl, rollt einen Fliegenfänger aus und hängt ihn neben der Glühbirne an die Decke. Schnell bleiben die ersten Fliegen am süßlichen Leim kleben.

Arpi ist mit 22 Jahren Sitas älteste Enkelin. Sie gehört zur Generation Container. Anders als ihre Großmutter Sita und ihre Tante Gayaneh kennt sie gar nichts anderes als das Leben in dieser Baracke. Doch Arpi hat studiert und hofft, dass sie bald arbeiten kann. Sie will militärische Ausbilderin am Pädagogischen Institut Gjumri werden und Schülerinnen und Schüler militärisch ausbilden, ganz in alter sowjetischer Tradition. Dabei gilt nur für Männer ab 18 Jahren eine zweijährige Wehrpflicht, für Frauen nicht. Daher unterrichten auch eher Männer das Fach. Doch Arpi will sich durchsetzen, gegen die Männergesellschaft, die Armenien bis heute prägt. Ob sie das schafft?

Arpis blonde Haare

Arpi antwortet nicht, sondern will etwas auf dem Computer zeigen. Neben dem Kühlschrank ist er hier der einzige Wertgegenstand, beides sind Geschenke. Sie klickt auf eine Bilddatei. Das Foto baut sich langsam auf und zeigt Arpi in Uniform – und mit blonden Haaren! Die junge Frau strahlt. Weil Armenierinnen eher schwarze Haare haben, habe sie ihre Haare blond gefärbt, erzählt sie. In der virtuellen Welt hat sie damit schon Erfolg. „Die Blonde in Uniform“ hat in den sozialen Netzwerken enorm viele „Likes“. Im wirklichen Leben hat sie deutlich weniger Chancen. Vor vier Monaten bereits hat sie sich um die Stelle beworben. Die Antwort steht noch aus.

„Man muss wohl erst eine olympische Medaille gewinnen, um aus dieser Hölle rauszukommen“, sagt Arpi jetzt. „Genau!“, pflichtet ihr Gayaneh bei. „Das ist nur zu wahr!“, sagt nun auch Sita. In einem Container nebenan wohnte der Gewichtheber Gor Minasjan. Bei den Olympischen Spielen in Rio hat er Silber gewonnen. Danach bekam er eine Vierzimmerwohnung. „Scheiße! Die Brühe!“, ruft plötzlich Gayaneh, rennt zum Herd und zieht einen Topf beiseite. Für den Neffen, dem die Mandeln entfernt wurden und der im Krankenhaus liegt, kocht sie Kartoffelsuppe.

Plötzlich tritt ein Mann herein, akkurat rasiert, Haare kurz geschnitten, das Hemd frisch gebügelt. So einer gehört nicht in den Container. Es stellt sich heraus, dass er ein ferner Verwandter ist, der Gayaneh und Arpi abholen will, um den kranken Neffen zu besuchen. Sein strenger Blick bedeutet, dass sich die Frauen beeilen sollen, anstatt zu plaudern. Er erkundigt sich höflich nach Sitas Gesundheit und nimmt neben dem Computertisch Platz.

„Gibt es eine schlimmere Regierung als die von Armenien?“, fängt er an zu reden und wird deutlicher. Die Familie des Staatspräsidenten, der Premierminister, die Chefs von Zoll und Polizei und alle korrupten Unternehmer, die im Parlament sitzen – sie seien für die erbärmliche Lage im Land verantwortlich. „Sie bauen sich Villen, eröffnen Restaurant, dabei verschimmeln die Bürger in diesen Buden.“ Er schaut sich um in diesem übergroßen Pappkarton und murmelt: „Und das nennt sich dann Unabhängigkeit.“ – „Na los, ab zum Krankenhaus“, beendet Sita die Rede.

Die drei verlassen den Container, Gayaneh trägt den Suppentopf, in Tücher gewickelt, unterm Arm. Sita hat sich ins Sofa fallen lassen, hinter sich den Wandteppich. Sie schaut hinaus. Nach den Gesprächen ist es plötzlich sehr still. Ein Luftzug bewegt den Tapetenrest an der Wand nur ganz sacht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.