Verdi-Chef Frank Bsirske über Amazon: „Wir erleben einen Kulturkampf“

Trotz des Protests von Amazon-Beschäftigten will Springer Unternehmenschef Bezos auszeichnen. Verdi wirft ihm vor, Arbeit in Deutschland amerikanisieren zu wollen.

Transportband in einem Logistikzentrum von Amazon. Darauf Pakete

Bei Amazon muss immer alles schnell gehen – selbst die Belegschaft soll laufen, nicht stehen Foto: reuters

Der Axel-Springer-Verlag will an diesem Dienstagabend Amazon-Chef Jeff Bezos für sein „visionäres Unternehmertum“ auszeichnen. Bei den Beschäftigten des Onlineversandhändlers stößt das allerdings auf wenig Begeisterung. Ob in Leipzig, Werne, Bad Hersfeld oder Rheinberg: An mehreren deutschen Amazon-Standorten sind sie deshalb in dieser Woche in den Streik getreten. Mal wieder. Auch vor dem Springer-Verlagshaus in Berlin werden am Abend mehrere hundert Amazon-Mitarbeiter zum Protest gegen die Verleihung des „Axel Springer Awards“ an Multimilliardär Bezos erwartet. Im taz-Interview begründet der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, warum der Arbeitskampf bei Amazon so langwierig ist, was ihn von anderen unterscheidet – und warum er für die Gewerkschaft von zentraler Bedeutung ist.

taz: Herr Bsirske, seit fünf Jahren versucht Verdi, Amazon mittels temporärer Streiks und Protestaktionen zum Abschluss eines Tarifvertrags zu zwingen. Bislang ohne Erfolg. Inzwischen fordern Sie auch noch einen Gesundheitstarifvertrag. Welchen Sinn macht das?

geboren 1952, stand von 2001 bis 2019 an der Spitze der Dienstleistungsgwerkschaft Verdi. Nach dem Studium arbeitete er für die SPD-nahen Falken, später für die Grünen in Hannover. Ab 1997 war er für die Stadt Hannover tätig. Im Jahr 2000 wurde er Vorsitzender der ÖTV, der größten der fünf Einzelgewerkschaften, die zu Verdi fusioniert sind. Bei der Bundestagswahl im September kandidiert Bsirske auf Platz 6 der niedersächsischen Landesliste der Grünen.

Frank Bsirske: Es stimmt, dass wir den Gegenstand der Auseinandersetzung ausgeweitet haben. Wir fordern jetzt auch einen Gesundheitstarifvertrag mit Regelungen zu Erholungs- und Pausenzeiten und eine paritätische Kommission, die bestimmte Fragen der Arbeitsbelastung beeinflussen kann. Wie wichtig ein Gesundheitstarifvertrag für viele Amazonbeschäftigte angesichts der enormen Arbeitsbelastung ist, lässt sich schon an der Krankheitsquote ablesen. Die offiziellen Zahlen von 20 Prozent sind zwar mittlerweile gesenkt worden, das aber vor allem, weil die Langzeiterkrankten nun nicht mehr mitgezählt werden. Parallel dazu wurde der Druck auf die Kranken massiv erhöht.

Trotz der von Ihnen erwähnten Bereinigung liegt der Krankenstand bei Amazon weit über dem bundesweiten Durchschnitt. Wie erklären Sie sich das?

Die Arbeitsbelastung ist sehr, sehr hoch. Amazon arbeitet mit Inaktivitätsprotokollen. Die Beschäftigten sind alle über Scanner vernetzt, komplett transparent. Der Arbeitsprozess wird in Echtzeit abgebildet. Und die Belegschaft soll laufen, nicht stehen. Auf einer Betriebsversammlung in Leipzig kam kürzlich ein Kollege auf mich zu und zeigte mir eine Abmahnung, die er bekommen hat – wegen, so wörtlich, „zweimaliger Inaktivität innerhalb von fünf Minuten“. Wir sind damit vors Arbeitsgericht gegangen, und das hat das Ding kassiert. Eine Abmahnung, also eine Kündigungsandrohung im Wiederholungsfall, wegen zweimaliger Inaktivität innerhalb von fünf Minuten! Das spricht Bände.

Bisher haben Sie es bei Ihrem Arbeitskampf nicht mal geschafft, Amazon auch nur zur Aufnahme von Gesprächen zu bewegen. Haben Sie Ihren Gegner unterschätzt?

Nein, definitiv nicht. Sie haben ja in einem Hintergrundartikel in der taz Amazon „manchesterkapitalistischen Dogmatismus“ bescheinigt. Das trifft die Sache ganz gut. Wir haben es mit einem Konzern zu tun, der auf dem Wege zu einem globalen Monopol ist. Dabei verlangt die Konzernspitze aus Seattle kategorisch von ihren europäischen Filialen die Orientierung auf die Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen. Das heißt: Gewerkschaften? No. Kollektive Vertragsstrukturen? No. Der Arbeitgeber will einseitig die Entlohnungsbedingungen und die Arbeitsbedingungen festlegen. Was sich da abspielt, ist eine Kampfansage an die kollektiven Arbeitsbeziehungen, wie sie sich unter sozialpartnerschaftlichen Vorzeichen in der Bundesrepublik herausgebildet haben. Wir erleben einen Kulturkampf um die Frage, wie eigentlich die künftige Arbeitswelt gestaltet werden soll. Insofern handelt es sich um eine grundsätzliche Auseinandersetzung, die in ihrer Bedeutung weit über Amazon hinausreicht und gewiss nicht unterschätzt werden darf.

Das erklärt zwar die Notwendigkeit des Arbeitskampfes. Aber es reicht nicht, berechtigte Ansprüche zu haben, um sie auch durchsetzen zu können.

Dass es sich hier nicht um eine Auseinandersetzung handelt, die mal eben schnell gewonnen werden kann, sondern um einen harten und lang anhaltenden Konflikt, war uns von Anfang an bewusst. Wir haben es hier mit einem Konzern zu tun, der seine Läger bevorzugt in strukturschwachen Regionen mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit ansiedelt und systematisch von der Möglichkeit Gebrauch macht, Arbeitsverträge zeitlich zu befristen. Amazon ist gerade dabei, den Anteil der befristet Beschäftigten auf 40 Prozent hochzuschrauben. Dass das kein einfaches Umfeld für gewerkschaftliche Organisierung ist, ist doch keine Frage. Als wir anfingen, hatten wir in einem einzigen Lager Gewerkschaftsmitglieder. Inzwischen sind wir in den großen Lagern durchgängig bei knapp 40 Prozent Organisationsgrad, in einem sogar bei 60 Prozent und fast überall gibt es gewählte Betriebsräte.

Gibt es denn Anzeichen dafür, dass Verdi dadurch dem selbstgesteckten Ziel, tarifvertraglich geschützte Einkommens- und Arbeitsbedingungen bei Amazon durchzusetzen, nähergekommen ist?

Wer nur auf darauf schaut, dass Amazon immer noch nicht bereit ist, Tarifverhandlungen aufzunehmen, springt zu kurz. Als die ersten Streiks stattfanden, hatte es bei Amazon vier Jahre lang keine Lohnerhöhung gegeben. Dass es sie dann gab, war ein Reflex der Unternehmensführung auf die beginnende Auseinandersetzung. Als wir mit Streiks begannen, gab es kein Weihnachtsgeld. Das gibt es inzwischen – auch wenn es immer noch auf nur einem Drittel des Niveaus des Einzelhandelstarifvertrags liegt. Aber da können wir uns sicher sein: Ohne die Bereitschaft der Beschäftigten, sich für die eigenen Interessen einzusetzen, hätte es diese Zugeständnisse nicht gegeben. Der Arbeitskampf ist alles andere als wirkungslos.

Der Konzern bestreitet diesen Zusammenhang.

Das ändert nichts daran, dass es genauso ist. Ich will noch einen zweiten Punkt nennen, wo unser Arbeitskampf Wirkung zeigt: Man darf nämlich unter keinen Umständen unterschätzen, dass im Zuge dieser Streiks das Selbstbewusstsein der Belegschaft enorm gewachsen ist. Die Aktiven arbeiten zum Teil mit Verdi-Westen im Betrieb und haben den Mut, zu sagen: Ich bin Gewerkschaftsmitglied. Das Selbstbewusstsein, nicht alles mit sich machen zu lassen und das dabei gewonnene Selbstwertgefühl sind enorm wichtig.

Aber so richtig weh scheint das dem Konzern nicht zu tun, oder?

Wir sind mittlerweile in einigen Lägern zu Rein-Raus-Streiks in der Lage. Das gehört mit zum Anspruchsvollsten, was es überhaupt gibt: aus dem laufenden Arbeitsprozess in den Streik zu gehen, dann wieder rein und am selben Tag drei Stunden später wieder raus. Und wir sind dabei, diese Fähigkeit auf noch mehr Lager zu übertragen. Das ist eine extrem wirksame Form des Streiks.

Gleichzeitig scheint aber die Anzahl der Logistikzentren, in denen die Beschäftigten zum Streik bereit sind, abgenommen zu haben. In manchen Logistikzentren wurde bis heute noch an keinem einzigen Tag gestreikt.

Amazon gründet ja auch immer wieder neue, zum Beispiel Winsen an der Luhe.

Das Logistikzentrum im brandenburgischen Brieselang gibt es schon länger, trotzdem wurde es noch nie bestreikt.

In Brieselang gibt es zwei große Läger, eins gehört zu Amazon, das andere zu Zalando. In beiden haben wir es geschafft, mit den Beschäftigten Betriebsräte zu gründen. Bei Zalando hat es erste Arbeitsniederlegungen gegeben. Amazon in Brieselang liegt nebenan. Der Aufbau von betriebsrätlichen Strukturen sollte in jedem Fall nicht als unbedeutend abgetan werden. Auch das ist ein Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins der Beschäftigten.

Klingt nach Zweckoptimismus.

Überhaupt nicht. Wir lassen uns das bislang Erreichte nur nicht kleinreden. Natürlich müssen wir weiter daran arbeiten, unsere Handlungsfähigkeit zu verbreitern und den Organisationsgrad zu erhöhen. Und natürlich müssen wir in noch mehr Lägern zu Rein-Raus-Taktiken fähig werden. Das ist eine harte Arbeit, gerade weil wir es mit einem potenten und überhaupt nicht zu unterschätzenden Gegenüber zu tun haben. Aber wir haben einen langen Atem. Und wir haben Kolleginnen und Kollegen in den verschiedensten europäischen Standorten und den USA, die sich miteinander vernetzen.

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