Verdi-Chef über Arbeitnehmerrechte: „Deutschland, der kranke Mann“

Als Folge der Eurokrise fürchtet Verdi-Chef Bsirske auch hierzulande eine schlechtere Entlohnung. Peer Steinbrück warnt er davor, historische Fehler zu wiederholen.

Verdis „Kampfente“ – Power suggeriert man anders. Bild: dpa

taz: Herr Bsirske, die Weltbank hat vor einigen Tagen verkündet, die Gefahr für eine weitere schwere Finanzkrise sei gebannt. Alles prima in Europa?

Frank Bsirske: Für Entwarnung gibt es keinen Grund. Die Schattenbanken sind nach wie vor nicht reguliert, das Potenzial für die Wiederholung einer schweren Finanzkrise existiert weiterhin. Und dass die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose von 1 auf 0,4 Prozent reduziert hat, zeigt, dass die Auswirkungen der Krise beginnen, auf Deutschland durchzuschlagen.

Jenseits aktueller Konjunkturprognosen: Welche Auswirkungen befürchten Sie langfristig für Arbeitnehmerrechte in Deutschland?

2003/2004 haben das liberal-konservative Lager und die Arbeitgeber in Deutschland versucht, per Gesetz Betriebsräte oder Belegschaften in die Lage zu versetzen, Tarifverträge auszuhebeln. Das konnte damals abgewehrt werden. Genau diese Politik erleben wir derzeit in Südeuropa. Die europäische Zentralbank teilt beispielsweise dem italienischen Ministerpräsidenten mit, man mache den Ankauf von Staatsanleihen davon abhängig, dass Italien zu einer Verbetrieblichung der Lohnfindung übergehe, also weg vom Flächentarifvertrag.

Da das europäische Staatensystem wie ein System kommunizierender Röhren funktioniert, ist zu befürchten, dass mittelfristig eine solche Schwächung der Gewerkschaften und der Verhandlungsmacht der Beschäftigten auch hier wieder auf der Tagesordnung stehen. Dann wird es heißen, nun hinke Deutschland hinterher und sei der kranke Mann in Europa.

Wie viel strategisch abgestimmten Masterplan sieht der Gewerkschaftsmann Bsirske am Werk? Stichwort: die Krise nutzen, um Europa im globalen Konkurrenzkampf mit dem asiatisch-pazifischen Raum wettbewerbsfähiger zu machen?

Für mich ist unverkennbar, dass die Politik von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank das Konzept verfolgt, für mehr mittelfristige Wettbewerbsfähigkeit die Gewerkschaften zu schwächen und den Wohlfahrtsstaat abzubauen. Dafür wird zumindest billigend in Kauf genommen, die Volkswirtschaften massiv in die Krise zu treiben. Die sozialen Kosten dieser Politik sind für die Menschen immens, aber auch ökonomisch wird es nicht aufgehen.

Warum? Zynisch könnte man sagen, der Abwärtstrend in Ländern wie Spanien oder Griechenland hält zwar an, aber er schwächt sich ab.

Aber wer soll all die produzierten Waren kaufen, wenn die Binnenmärkte in Europa geschwächt und die staatlichen Haushalte massiv heruntergefahren werden? Es heißt immer, die anderen. Aber wer sind diese anderen? Der Generalsekretär der größten britischen Gewerkschaft erzählte mir kürzlich: Ja, bei uns sagt die Politik, dass seid ihr, die Deutschen. In Griechenland hört man, die Briten sollen die Produkte kaufen. Aber die werden selber auf einen massiven Austeritätskurs getrimmt. Oder es heißt, die USA oder die Schwellenländer sollen kaufen. Aber auch dort schwächt sich die Konjunktur ab.

Wenn alles so schlimm ist, warum gibt es dann so wenig lautstarken Protest der deutschen Gewerkschaften?

steht seit 2001 an der Spitze der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Der Sohn eines VW-Arbeiters und einer Krankenschwester studierte Politikwissenschaften und ist Mitglied der Grünen. Die Gewerkschaftskarriere des 60-Jährigen begann 1989 bei der damaligen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in Hannover. Die ÖTV vereinigte sich 2001 mit vier weiteren Einzelgewerkschaften zu Verdi. Diese Organisation zählt heute knapp über zwei Millionen Mitglieder. Bsirske gilt als dezidiert linker Gewerkschaftschef. Er war einer der schärfsten Kritiker der rot-grünen Agendapolitik.

Weil es nach wie vor außerordentlich schwierig ist, die Betroffenheit in die Betriebe zu vermitteln. Die ganze Materie ist extrem komplex. Wir brauchen mehr Europa, aber eben nicht dieses Europa. Damit kann man aber den wenigsten kommen, denn viele denken, lieber weniger als mehr Europa. Dieses Spannungsverhältnis kann man zwar relativ einfach in den gewerkschaftlichen Spitzengremien oder in der Bildungsarbeit bewältigen, aber nicht im Betrieb.

Aber nicht einmal die Gewerkschaften untereinander ziehen an einem Strang. Bei der IG Metall hält man sich auffällig zurück mit Kritik am europapolitischen Kurs der Bundeskanzlerin, die IG Metall hat auch nicht beim Umfairteilen-Bündnis für mehr Steuergerechtigkeit mitgemacht. Stattdessen gibt der Vorsitzende, Berthold Huber, Mitte Oktober in einem Interview den spanischen Gewerkschaften eine Mitschuld an der Verkrustung des Arbeitsmarktes. Damit können Sie nicht einverstanden sein.

Ich glaube, diese Diskussion müssen Sie mit der IG Metall führen.

Aber ich frage Sie! Sie kooperieren doch miteinander.

Die IG Metall hat ihre europapolitischen Positionen intensiv überarbeitet und Herausforderungen klar analysiert. Da haben wir keine Differenzen. Die IG Metall übt zudem praktisch viel Solidarität mit den Metallgewerkschaften in Europa und Spanien. Und mit ihrer lohnpolitischen Linie, den neutralen Verteilungsspielraum ausschöpfen oder übertreffen zu wollen, leistet sie einen Beitrag zur Stärkung des Binnenmarktes. Zudem haben wir auf der DGB-Bundesvorstandsklausur in diesen Tagen gemeinsam beschlossen, dass eines der Topthemen 2013 die Forderung nach Umverteilung und Steuergerechtigkeit wird. Denn es ist nicht gerecht, wenn das reichste Prozent in Deutschland 3,6 Billionen Euro an Nettovermögen besitzt.

Es ist also nicht kontraproduktiv, die spanischen Gewerkschaften in der Krise so anzugreifen?

Mein Eindruck ist, es gibt einen engen Diskussionszusammenhang zwischen dem IG-Metall-Vorsitzenden und den Vorsitzenden der spanischen Metallgewerkschaften. Wenn es Vorbehalte gibt, werden die dort sicher zur Sprache gebracht.

Harmonie herrscht auch wieder zwischen den Gewerkschaften und Rot-Grün. Dort teilt man Ihre Positionen für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde, die Stärkung von Tarifverträgen, die Reregulierung der Leiharbeit. Wer garantiert Ihnen, dass sich der Agendamann und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück daran nach der Wahl noch erinnert?

Die Erfahrung, die die SPD gemacht hat, als sie ihr Kernprofil in Fragen der sozialen Gerechtigkeit verloren hat, war für die Partei ja nicht gerade ermutigend. Ich glaube, die Lust, diese historisch niederschmetternde Erfahrung noch einmal zu wiederholen, dürfte bei den maßgeblichen Köpfen nicht ausgeprägt sein.

Unterschätzen Sie da nicht das Ego von Herrn Steinbrück?

Über sein Ego will ich nicht spekulieren. Tatsache ist, er hat sich klar positioniert. Aber natürlich müssen wir dazu beitragen, dass es mit der Beinfreiheit nach der Wahl nicht so weit her ist, egal um welche Partei es geht.

In der Rentenpolitik ist der Konsens bereits jetzt nicht überzeugend. Die SPD will das Absinken des Rentenniveaus nicht per Gesetz stoppen, sie setzt vielmehr auf die gute Lage am Arbeitsmarkt, um die Problematik Altersarmut abzumildern.

Ohne eine Stabilisierung des Rentenniveaus wird es nicht gehen. Denn sonst erhält man auch mit einem Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde im Alter nur eine Rente auf Grundsicherungsniveau. Die Parteien werden da noch ein riesiges Legitimationsproblem bekommen. Nur ein Beispiel: Sinkt das Rentenniveau weiter, dann wird die Hälfte aller Männer im Osten, die zwischen 1956 und 1965 geboren wurden, im Alter trotz Vollzeitbeschäftigung und Rentenbeginn mit 67 nur eine gesetzliche Rente auf Grundsicherungsniveau erhalten. Bei den Frauen sieht es noch schlimmer aus. Wir müssen in der Politik für einen Mindestlohn streiten und in den Betrieben als Gewerkschaft weiterhin Tarifauseinandersetzungen gegen Niedriglöhne führen. Aber wir bleiben dabei. Das Rentenniveau darf nicht sinken.

Jetzt stehen, ab Ende Januar, erst einmal Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst der Länder an. Sie fordern 6,5 Prozent mehr Lohn. Wie verkaufen Sie das bei leeren Kassen?

So leer sind die Kassen der Länder nicht. Prognosen sagen, 2014 werden wir 40 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen gegenüber 2012 haben, viel davon wird auf die Länder entfallen. Der öffentliche Dienst muss finanziell an Attraktivität gewinnen. Denn je nach Bundesland scheiden in den nächsten acht Jahren 20 bis 25 Prozent der Beschäftigten aus dem öffentlichen Dienst altersbedingt aus. Und wie will man Nachwuchs gewinnen, wenn der Trend des letzten Jahrzehnts weiter anhält, dass die Lohnentwicklung bei den Ländern unter dem Durchschnitt der Tariflohnentwicklung in der Gesamtwirtschaft bleibt? Aber wir wollen auch etwas für die Jugend erreichen. Da, wo bedarfsgerecht ausgebildet wurde, soll es nach erfolgreicher Ausbildung einen Anspruch auf Übernahme geben. Und wir sagen: Hände weg vom Urlaub!

Vom Urlaub?

Wir hatten bisher im öffentlichen Dienst der Länder bis zu 30 Tage Urlaubsanspruch. Die Arbeitgeber haben diese Bestimmung im Tarifvertrag einseitig gekündigt und per Richtlinie vorgegeben, dass in einigen Bundesländern Neuangestellte nur noch Anspruch auf 26 Tage Urlaub haben. Das betrifft natürlich auch alle befristet Beschäftigten, deren Vertrag verlängert werden muss. Das Thema sorgt bei den Beschäftigten für großen Unmut.

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