Vergessene NS-Opfer: Die Siedlung der „Asozialen“

In Woltmershausen errichtete der Bremer Senat 1936 die Anlage Hashude – ein „Familien-KZ“ für „Asoziale“. Deren Stigmatisierung dauert bis heute an.

Heute heißt die Anlage Hashude "Siedlung am Warturmer Platz". Bild: Michael Bahlo

BREMEN taz | Im opulenten Programm, mit dem in Bremen derzeit rund um den 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, fehlt eine wichtige Bevölkerungsgruppe: die „Asozialen“. Dabei fiel Bremen seinerzeit reichsweit durch einen besonders repressiven „sozialpolitischen“ Eifer auf.

Wenn etwa die Vorgabe aus dem Haus von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, lautete, pro Großstadt mindestens 200 „Arbeitsscheue“ bei entsprechenden Razzien zu internieren, „schaffte“ Bremen 400. Die kamen ins berüchtigte KZ „Teufelsmoor“, das reichsweit als richtige Adresse für besonders „harte Fälle“ galt.

Auch finanzielle „Erfolge“ hatte Bremen vorzuweisen: Zwischen 1932 und 1937 konnte die Sozialverwaltung die Summe der Fürsorgeleistungen halbieren. Die Zahl der zu unterstützenden Bremer Erwerbslosen wurde im selben Zeitraum sogar von 20.000 auf nur noch ein Prozent reduziert. Unter anderem für diese übrig gebliebenen 200 wurde Hashude gebaut – ein „Familien-KZ“ im Woltmershauser Industriegebiet, dessen Geschichte und sozialpolitische Hintergründe die fühere Mitarbeiterin des Sozialressorts Elke Steinhöfel erforscht hat.

Auch hier wollte Bremen „Vorbild“ sein. Lediglich von Heidelberg ist bekannt, dass dort ebenfalls eine „Asozialen-Kolonie“ errichtet wurde – die aber nur ein Jahr Bestand hatte. Bremen investierte für den Bau von Hashude 600.000 Reichsmark. Das war 1936, als der Vierjahresplan die Wirtschaft bereits in Richtung Rüstungsproduktion umpolte, eine bemerkenswerte Summe – die den Ehrgeiz unterstreicht, ein reichsweit zu beachtendes „Modell“ zu schaffen. Zum Vergleich: Der Posten im Bremer Haushalt, der im selben Jahr allgemein für Wohnungsbau vorgesehen war, lag bei 350.000 Mark.

84 Familien, insgesamt fast 500 Menschen, wurden zwangsweise in Hashude untergebracht: Mietschuldner, „Arbeitsscheue“, Landstreicher, arme Alkoholiker, politisch Missliebige, „Meckerer“ und sonstige den Behörden lästige Familien. „Elemente“, wie es in einer Akte der Bremer Wohnungsfürsorgeanstalt heißt, „die bewußt oder unbewußt die Volksgemeinschaft ablehnen“. Als gesetzliche Grundlage der Einweisung wurde die Reichstagsbrand-Verordnung bemüht, durch die ohnehin zahlreiche individuelle Grundrechte außer Kraft waren.

Niemand durfte die Anlage ohne Erlaubnis des Lagerleiters, der gleichzeitig Chef im Teufelsmoor war, verlassen oder betreten. Lediglich vom ursprünglichen Plan, den umgebenden Zaun elektrisch zu sichern, hatte man aus baupraktischen Gründen Abstand genommen.

Innerhalb dieses Areals konnte niemand der Überwachung entgehen. Ein Kontroll-Erker ermöglichte den insgesamt bis zu 30 Lager-Mitarbeitern den Blick in alle Winkel der Freiflächen, hinzu kamen tägliche Wohnungskontrollen. Das Personal war befugt, Warnschüsse und Prügelstrafen einzusetzen, eine Mitarbeiterin – nach 1945 im Bremer Gesundheitsamt tätig – war für die „erbbiologische Beobachtung“ zuständig. Sie entschied per ungünstiger Sozialprognose über Zwangssterilisierungen.

Es ist nicht erforscht, wie viele BremerInnen bei den Sterilisierungen ums Leben kamen. Reichsweit entsprach die Zahl der Sterilisierten mit 350.000 ziemlich genau dem damaligen Bremer Einwohnerstand, 17.000 starben dabei. Gut möglich, dass diese Mortalitätsrate in Bremen, im heutigen Klinikum Mitte, noch deutlich höher war: Bekannt ist, dass der überwiegend operierende Oberarzt unter Sehschwäche litt.

Heute wirkt die Anlage Hashude, die nun „Siedlung am Warturmer Platz“ heißt, wie ein dörfliches Idyll. Der im Sommer Geranien-umrankte Bogen des früheren Torbaus markiert eine deutliche Zäsur zu den heruntergekommenen Wohnblocks der Umgebung: Im gewissen Sinn ist das eine Umkehrung der sozialen Nachbarschafts-Hierarchien. Doch dass im Keller unterhalb dieses Eingangsgebäudes Menschen schwer misshandelt wurden, dass hier ein Lager existierte, daran erinnert nichts. „Die heutigen Bewohner wollen keine Plakette oder dergleichen“, sagt Steinhöfel. Schließlich gehe es hier um eine Geschichte, mit der sich niemand identifiziert sehen wolle. Vor allem nicht die rund 50 Prozent der BewohnerInnen, die Kinder, Enkel und Urenkel der „Asozialen“ sind.

Eine der ganz wenigen, die in der Zeitung – aber doch anonym – von dieser Geschichte sprechen wollen, ist Wilma S. Die 88-Jährige kam als Kind nach Hashude, zusammen mit sechs Geschwistern und ihren Eltern, der Vater war als Kommunist verschrieen. „Das war eine ganz ganz schwere Zeit“, sagt die alte Frau, und es falle ihr auch heute noch schwer, davon zu berichten. Der Vater habe als renitent gegolten: Er verweigerte immer wieder den Hitlergruß, den man beim Passieren des Lagertores automatisch zu entrichten hatte.

Einmal sei ihr Vater, der außerhalb arbeiten durfte, von einem Richtfest nach Hause gekommen, erzählt S., da war etwas getrunken worden – für die Torwache ein ausreichender Anlass, den Mann die Treppe zum Keller-Gewahrsam herunterzustoßen und weiter zu misshandeln. „Ich höre heute noch seine Schreie“, sagt die alte Frau. Neun Wochen habe ihr Vater anschließend im Krankenhaus gelegen.

Die Traditionslinien der Ausgrenzung und Drangsalierung von „Asozialen“ reichen zurück bis zur Gründung des ersten Bremer „Arbeitshauses“ im frühen 17. Jahrhundert. Doch warum existierte die Anlage „nur“ bis 1940 als offizielle Anstalt? Weil sie nach Maßstäben des Reichsfinanzministeriums nicht effektiv genug war. „Besserungen“ der Bewohner seien nicht in ausreichendem Maß feststellbar, befand man in Berlin anhand der Aktenlage, zudem werde der Wohnraum für „verdiente Volksgenossen“ gebraucht. Von denen allerdings, so wurde schnell klar, wollte niemand nach Hashude. Die Stigmatisierung hatte insofern „zu gut“ funktioniert – was noch heute zu spüren ist.

„Bei den Historikern und Sozialwissenschaftlern dieser Stadt“, sagt Steinhöfel, „stieß das Thema nie auf ein besonderes Interesse.“ Sie selbst kommt aus der Praxis: Steinhöfel war bis zu ihrer Verrentung Abteilungsleiterin im Amt für Soziale Dienste. „Jedes Mal, wenn ich am 27. Januar zur Gendenkveranstaltung im Rathaus war“, sagt Steinhöfel, „hat es mich gestört, dass bei den gewürdigten Opfergruppen die ,Asozialen‘ gefehlt haben.“

Das freilich hat strukturelle Gründe: Die „Asozialen“ – im KZ mit einem schwarzen Winkel an der Kleidung gekennzeichnet – sind die einzige Opfergruppe, die keinen Verfolgten-Verband gegründet haben. Was wiederum darauf verweist, dass die Stigmatisierung als „asozial“ diejenige ist, die über das NS-Regime hinaus den dauerhaftesten Bestand hat. „Ich hoffe“, sagt Steinhöfel, „dass meine Arbeit dieser Gruppe wenigstens einen Türspalt in der Gedenkkultur Bremens öffnet.“

Entschädigt wurden die Hashuder in Gegensatz zu anderen NS-Opfern erst 1988 – mit maximal 5.000 Mark pro Person.

Konrad Elmshäuser, dessen Staatsarchiv Steinhöfels Arbeit veröffentlicht, will sich nun für einen „Ensembleschutz“ der Siedlung einsetzen. Das ist die unterste Stufe von Denkmalschutz. Sie verhindert keine Umbauten im Inneren der Häuser, die oft ohnehin schon vorgenommen sind, aber Veränderungen des äußeren Gesamtbildes. Etwa Hausaufstockungen, die angesichts von 54 Quadratmetern Wohnfläche pro Einheit durchaus nahe liegen. Immerhin handele es sich, sagt Elmshäuser, um „das größte zusammenhängende Stück NS-Architektur in Bremen“.

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