Verkehrssicherheit auf dem Schulweg: Raus aus der Begegnungszone
Lange weisen Eltern auf eine gefährliche Kreuzung hin – erfolglos. Dann wird dort ein Fünfjähriger verletzt. Und die Politik? Fährt Quassel-Kampagnen.
Z um Schuljahresstart ging in unserer Eltern-WhatsApp-Gruppe ein Link zur Aktion der Berliner Landesverkehrswacht rum: Man solle besonders gefährliche Stellen auf dem Schulweg melden. Ich las, dass außerdem Banner an Schulen verteilt wurden, die an Autofahrer appellieren, ihre Geschwindigkeit anzupassen. Der Bürgermeister war begeistert: „Für den Senat hat Sicherheit auf den Schulwegen, vor Schulen und Kitas höchste Priorität. Ich appelliere an alle Verkehrsteilnehmer, gegenseitig Rücksicht zu nehmen.“
Drei Wochen später wurde ein Fünfjähriger von einem abbiegenden Autofahrer schwer verletzt. Die Eltern der anliegenden Schule hatten seit vielen Monaten immer wieder auf die Gefährlichkeit der Kreuzung hingewiesen. Die Verantwortlichen in der Verkehrsverwaltung lehnten Änderungen indes ab: Die Kreuzung sei sicher, der Autoverkehr müsse fließen.
Im Verkehrsausschuss des Bundestages wurde derweil der jüngste Unfallverhütungsbericht vorgestellt. Darin steht, dass zwei Drittel aller innerorts getöteten Menschen per Rad oder zu Fuß unterwegs waren. Getötet wurden sie in der großen Mehrheit von Autofahrern. Besonders gefährdet sind Jugendliche und alte Menschen.
Ich las, dass die Verkehrswacht als Konsequenz vorschlägt, die gefährdeten Gruppen besser zu schulen. Klar. Ich meine – natürlich könnten auch die gefährlichen Bedingungen angepasst werden: Als erste Schritte getrennte Ampelphasen und innerorts flächendeckend Tempo 30, das auch überwacht wird. Das würde jedes Jahr hunderte Menschenleben und tausende Verletzte retten. Aber es würde halt auch die Freiheitsgefühle mancher Autofahrer belasten.
Politik wegen Beihilfe zur Körperverletzung verklagen?
Nach dem Unfall des Jungen habe ich erstmals überlegt, ob es sinnvoll wäre, mal verantwortliche Menschen in Politik und Verwaltung wegen Beihilfe zu Körperverletzung zu verklagen. Schließlich handelt es sich ja um kein Geheimwissen, wie eine Vielzahl von Unfällen zu verhindern wäre. Verantwortliche Politiker nehmen sie nur billigend in Kauf und fahren Kampagnen für das „Miteinander im Straßenverkehr“, anstatt zu handeln.
Aber vielleicht habe ich auch nur die falsche Perspektive. In der letzten Kolumne hatte ich ja von meinem geklaut-wiedererjagden Fahrrad geschrieben. Letztes Wochenende war es dann endgültig weg: geklaut vom Fahrradständer vor unserem Haus.
Am selben Tag begleitete ich eine Freundin zu einem buddhistischen Vortrag und hörte: „Alles, was geschieht, ist Segen oder Lehre“. Ich fragte, welche Lehre aus einem Raddiebstahl zu ziehen sei und wie eine angemessene Reaktion aussähe. „Verschenken!“, riet der Vortragende. Ich solle das Rad verschenken und seinem neuen Besitzer viel Freude damit wünschen. Das löse die karmische Verbindung zu dem Menschen – dem ich ja nicht noch mal begegnen wolle. Der Rest seien schlicht übliche Schwierigkeiten der bedingten Welt.
Ich habe mir vorgenommen, das nächste Mal zu fragen, welche Lehre für uns als Bürger in (Verkehrs-)Politik steckt, die lieber Quassel-Kampagnen fördert, anstatt Lösungen umzusetzen, zum Beispiel, wenn es um Verkehrssicherheit geht. Und ich frage, wie ich mich in diesen Schwierigkeiten der bedingten Welt verhalte – ohne lethargisch oder wütend zu werden.
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