Verschlafen am Meer: Dieser Blick

Seit 200 Jahren ist Cuxhaven offiziell Seebad. Trotz der rund 3,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr wirkt die Stadt stets leicht verpennt

Die wahre Schönheit liegt ohnehin nicht an Land. Foto: jpb

CUXHAVEN taz | Auf der „Alten Liebe“ stehen die Touristen. Stützen sich mit den Ellenbogen auf das weiße Holzgeländer und kehren der Stadt den Rücken zu. Von morgens bis abends stehen sie da in einer Reihe und gucken zu, wie sich die Elbe aus der Nordsee löst, wie sich Containerschiffe auf ihrem Weg nach Hamburg in die Flussmündung schieben, wie die „MS Flipper“, die „MS Otter“ oder die „Jan Cux II“ zu den Seehundbänken fahren.

Bei Niedrigwasser liegen die Tiere auf den Sandbänken herum, dösen, verdauen was von den fünf Kilo Fisch, die sie jeden Tag fressen; braune Flecken auf braunem Sand, manche strecken ihren hellen Bauch in die Luft und sehen dann ziemlich tot aus.

Bei jedem Wasser kommen die Touristen auf den Anleger, der hier seit 1733 steht. Drei Schiffe wurden hier damals versenkt, mit Steinen gefüllt, drum herum Pfähle eingerammt und obendrauf Anleger und Wellenbrecher gebaut. Erst vor gut zehn Jahren wurde er durch eine Konstruktion aus Stahlbeton und einem zweistöckigen Pfahlbau aus Holz ersetzt.

„Alte Liebe“ heißt der Anleger aber noch immer. Dieser Name ist entstanden, wie Namen eben so entstehen: Eines der versenkten Schiffe hieß „Olivia“, die Leute nannten es aber nur „Oliv“ und das klingt wie „ole Leef“ – niederdeutsch für „alte Liebe“. Oben gucken Touristen aufs Wasser und unten sitzen Einheimische und trinken Dosenbier und gucken auf die Stadt.

Es ist kein Wunder, dass die Besucher herkommen, um aufs Wasser zu gucken. Denn Cuxhaven wirbt auch in seinem 200. Jahr als Seebad landseitig mit recht unspektakulären Superlativen für sich. Zum Beispiel mit diesem: Wo die Elbe endet und die Nordsee und mit ihr der Sandstrand beginnt, liegt der nördlichste Punkt von Niedersachsen. Der ist nicht zu übersehen, weil dort die knapp 30 Meter hohe Kugelbake steht, einst wichtiges Seezeichen und heute bloß noch Wahrzeichen. Wer genug von der „Alten Liebe“ heruntergeguckt hat, läuft um die Kugelbake herum und sagt: „Ach, guck mal, schön!“

Oder mit diesem: Cuxhaven ist mit knapp 50.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt an der niedersächsischen Küste, an der es sonst ja auch nur noch Wilhelmshaven und Emden gibt. Ein fragwürdiger Superlativ also, zumal Cuxhaven, das vom 13. Jahrhundert bis 1937 zu Hamburg gehörte, in den 1970er-Jahren schon mal 64.000 Einwohner hatte. Aber die Stadt, die sich aus zwölf Orten wie Arensch-Berensch, Holte-Spangen, Döse oder Groden zusammensetzt, schrumpfte. Die Jungen gingen, die Alten starben.

Bei einer Hafenrundfahrt erfährt man, dass der komplett asphaltierte Wohnmobilstellplatz am Fährhafen, auf dem dicht an dicht 100 Wohnwagen stehen können, zu den zehn beliebtesten Campingplätzen an der deutschen Küste gehört und dass am Steubenhöft auch heute noch die größten Schiffe der Welt festmachen können, also eher könnten. Als dieser Anleger 1913 fertig wurde, legten die damals weltgrößten Schiffe der Imperator-Klasse nach New York und Boston ab, heute betreibt hier die Elb-Link-Reederei die Fähre nach Brunsbüttel. Der Reiz dieses Ortes liegt nicht an Land. Auch wenn Cuxhaven vor allem um den alten Fischereihafen, das Ritzebüttler Schloss und das alte Lotsenviertel herum, einen rauen Charme hat und sich abhebt von polierten Nordseeorten wie St. Peter-Ording.

Cuxhaven ist eher ein Ort zum Leben als zum wochenlangen Ferienmachen. Hier wird nicht nur flaniert, hier wird gearbeitet, in der Fischindustrie, in der Werft, in der Offshore-Branche. Gerade baut Siemens in Cuxhaven ein neues Werk für Windkraftanlagen, das 1.000 Jobs in die Stadt bringen soll. Sie wollen hier zu einem großen Offshore-Windenergie-Hafen werden. Im Deichvorland, im 1937 eingemeindeten Groden, gibt es schon ein Testgelände für Super-Windkraftanlagen auf See.

Der Reiz Cuxhavens liegt für die Besucher in der Weite – und im Schlick, der sich dunkel und samtig zwischen die Zehen schiebt und auf dem der gelbe Sand hartnäckig kleben bleibt, panierte Füße. Das kann man nur trocknen lassen und abrubbeln oder abspülen. Hinterm Deich gibt es extra Waschstellen. An den Fußbecken steht „Hier kein Geschirr spülen“, an der Dusche „Schlickdusche“, kommt aber Wasser raus.

Es kann passieren, dass man den ganzen Tag auf das Meer wartet. Meistens ist es nicht da, läuft gerade ab oder auf. Im Sommer sitzen die Menschen trotzdem den ganzen Tag im Sand, kehren Deich und Stadt den Rücken und schauen auf den Schlick. Wer baden will, muss laufen oder warten.

In seiner allerersten Saison als Seebad, vor genau 200 Jahren, kamen 295 Gäste, um zu baden und durch das Watt zu laufen. Damals war das Baden in der wilden und freien Nordsee für die Deutschen unbekanntes Terrain. In England waren Ende des 18. Jahrhunderts zwar die ersten Seebäder entstanden und der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg schlug 1793 in einem Artikel vor, in Cuxhaven auch ein solches Bad zu gründen, es war dann aber erst der Hamburger Senator Amandus Augustus Abendroth, der diese Idee 1816 umsetzte, eine Aktiengesellschaft gründete und so das erste Badehaus finanzierte. Heute ist das Baden in der Nordsee so normal wie das Radfahren hinterm Deich.

Cuxhaven will den Touristen was bieten, mit den anderen Seebädern an der Küste mithalten. Darum haben sie hier Wrackmuseum „Windstärke 10“ gebaut, die „Cuxlibahn“ trödelt zwischen der „Alten Liebe“ und den denkmalgeschützten Hapag-Hallen hin und her, das Thalassobad wurde modernisiert. Der Tourismus ist auch einer der großen Wirtschaftszweige der Stadt. Rund 6.000 Menschen arbeiten in der Branche und laut Kurverwaltung haben sie in den vergangenen zehn Jahren rund 40 Millionen Euro investiert.

Aber Cuxhaven biedert sich nicht an, ist noch immer etwas schrottig. Die Hamburger jedenfalls fahren lieber in Scharen nach Sylt, Travemünde oder St. Peter-Ording. Auch wenn es von Hamburg aus nicht besonders weit ist, 120 Kilometer etwa, durchs alte Land hindurch, immer an den Protestschildern gegen eine weitere Elbvertiefung vorbei. Nach Cuxhaven kommen vor allem Menschen aus dem Ruhrpott.

260.000 Tagesgäste pro Saison und 3,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr machen Cuxhaven zum größten Seebad an der Nordseeküste. In Relation zur Einwohnerzahl hat Cuxhaven im Vergleich der niedersächsischen Kommunen aber auch die mit den höchsten Schulden. 6.872,60 Euro je Einwohner. Auch wenn die Zahl der Touristen stetig wächst, bleiben die Schulden, die vor allem aus dem Einbruch der Fischindustrie resultieren, ein Problem für die Stadt. 330 Millionen Euro sind es, 187 Millionen Euro will Niedersachsen übernehmen, den Rest muss Cuxhaven allein abbauen. Vor allem mithilfe der Touristen, in denen steckt das Geld.

Folgt man dem ablaufenden Wasser, lässt man nicht nur die Küste und die Stadt, sondern auch die Geräusche hinter sich. Der Fernsehturm, übrigens das gleiche Modell wie in Kiel, Münster und Bremen, wird immer kleiner, ist bald vor dem hellen Himmel kaum noch zu sehen. Erst kreischt es noch hier und da: Ah, ein Krebs! Trifft man einen, richtet der sich auf und droht mit seinen Scheren, haut ab! Schon gut, wir wollten nicht stören. Irgendwann ist das Platschen der Füße im warmen Nordseewasser laut. Hier und da sieht man Paare, Grüppchen oder einzelne Menschen durchs Watt laufen, einige fast nackt, andere ganz nackt und die nächsten im schicken weißen Kleid. Aber zu hören ist von ihnen nichts mehr. Eine stille Kulisse. Nur die Möwen kreischen und tummeln sich zu Hunderten an der sich immer weiter entfernenden Wasserkante.

Überall weiße Punkte. Und irgendwann steht man dann auf dem Meer. Als wäre man mitten auf der Nordsee aus einem Schiff gestiegen und ginge einfach nicht unter.

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