Verschwindende Sprachen: Und die Welt hebt an zu singen
Eine Ausstellung im Berliner Humboldt Forum widmet sich der Verdrängung der globalen Sprachenvielfalt.
An den Wänden der Ausstellung „Verwandt sein: geteilte Sprache, geteiltes Wissen?“ sind links und rechts zwei überlebensgroße Bilder zu sehen. Eines zeigt Nlabephee Kefas Othaniel, der seinen Onkel Pa Kanawa Musa beim Dza-Sprechen dokumentiert. Dza ist eine von 600 Sprachen, die in Nigeria gesprochen werden – und eine von vielen bedrohten Sprachen. Das Endangered Languages Archive (ELA) zeichnet solche Sprachen auf und macht sie international zugänglich. Im Rahmen einer Kooperation mit dem Humboldt Forum zum Thema „Beziehungsweise Familie“ macht das ELA sechs ausgewählte Sprachen für eine breitere Öffentlichkeit erfahrbar.
Etwa 6.500 bis 7.000 Sprachen gibt es auf der ganzen Welt – davon verfügen laut Mandana Seyfeddipur, Leiterin des ELA, nur rund 400 über ein Schriftsystem. Und die anderen? Kommunizieren auditiv, über taktile Systeme oder bedienen sich Gestik und Mimik, wie Gebärdensprachen. Besonders weit verbreitet sind, global gesehen, sogenannte Kolonialsprachen wie Englisch, Französisch, Japanisch und Russisch, allesamt auch Schriftsprachen. Um sie geht es in der Ausstellung jedoch nicht. Oder zumindest nur sekundär. Im Fokus stehen Sprachen wie Moken, Dza oder Ka’apor.
In der Mitte des Ausstellungsraums sind mehrere Bildschirme mit Sitzmöglichkeiten davor aufgestellt. Nacheinander werden auf den Screens Personen aus sechs verschiedenen Erdregionen porträtiert. Was die Protagonist:innen aus so weit voneinander entfernten Orten wie Thailand, Nigeria und Brasilien eint, ist, dass ihre Sprachen weltweit nur noch sehr wenige Menschen beherrschen und verstehen. In den Videos unterhalten sie sich über ihr Familienleben, ihre Traditionen – und die Rolle, die Sprachen für ihr Leben spielen.
Schnell wird beim Besuch der Ausstellung klar, wie begrenzt die Vorstellung von Sprache im deutschsprachigen Raum oft ist. Auch Deutsch zählt zu den Kolonialsprachen, die wie Niederländisch oder Spanisch bei Kolonialkriegen, christlichen Missionen und globalem Handel in den letzten 500 Jahren in der Welt verbreitet wurden. Um Widerstand zu unterdrücken, verbieten Kolonisator:innen die vor Ort gesprochenen Sprachen oft gewaltsam. Deswegen prägen Kolonialsprachen auch unsere Vorstellung davon so stark, was Sprachen vermeintlich im Kern ausmacht: eine fest etablierte Schriftsprache, die mit der auditiven, gesprochenen Sprache korreliert. Kann die Mehrzahl der Sprachen, die diese Kriterien nicht erfüllen, dann nur Besonderheit und Ausnahme sein?
Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigt eindrucksvoll das Gespräch zwischen zwei Ka’apor, die in den indigenen Gebieten Alto Turiaçus im Nordosten von Brasilien leben: eine hörende und eine gehörlose Person unterhalten sich lebhaft über das Cauinagemritual, das in der deutschen Übersetzung mit dem Begriff „Taufe“ umschrieben wird. Das Gespräch verläuft jedoch fast lautlos – die beiden Personen gebärden hauptsächlich auf Ka’apor. Durch deutsche und englische Untertitel wird versucht, das Gespräch für nicht ka’aporsprachige Besuchende zugänglich zu machen. Die Unterhaltung dreht sich um das traditionelle Brauen von Bier aus Cashewäpfeln, das dem Ritual vorangeht.
Ka’apor wird, anders als etwa Deutsch oder Englisch, gebärdet und gesprochen. Forschende vermutet, dass sich die Sprache so entwickelt hat, weil eine höhere Anzahl an Menschen in der Bevölkerung gehörlos geboren wird als beispielsweise in Bayern. Diese statistische Herleitung schmälert jedoch die politisch beeindruckende Besonderheit des Ka’apor nicht: Die Hörenden erlernen die Sprache der Gehörlosen. Statt die Minderheit auszuschließen, passt sich die Mehrheit ihr an und bindet sie ein.
Die selbstverständliche Inklusionsbereitschaft der Ka’apor lässt mit einer gewissen Verzweiflung an manche deutschen Schulhöfe denken, auf denen Kindern das Sprechen ihrer Erstsprache unter Androhung von Strafe von Lehrkräften verboten wird – es sei denn, es handelt sich um eine Kolonialsprache wie Englisch oder Französisch.
Die Arbeit, die das ELA und Menschen wie Nlabephee Kefas Othaniel leisten, soll keine Machtdemonstration sein. Die Sprachen werden nicht in eine Art Kuriositätenkabinett einsortiert, wo sie ohne Kontext verkümmern – eine berechtigte Kritik, der sich die Institution des Humboldt Forums bezüglich ihrer Sammlung kontinuierlich stellen muss. Hier soll die Archivierung ermöglichen, Lehrmaterial zu erstellen, sie soll Sprachen nicht nur bewahren und kategorisieren, sondern beleben und weitertragen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert