Versteckte Paragrafen im TTIP-Vertrag: Das Trojanische Pferd

Das TTIP-Abkommen bringt Passagen mit, die alle betreffen. Wir haben uns angeschaut, warum die Vereinbarung so umstritten ist.

Ein trojanisches Pferd durch eine mit Regentropfen benetzte Scheibe gesehen

Da steckt einiges drin: Trojanisches Pferd Foto: kallejipp/photocase

Konzerne verklagen Staaten

KritikerInnen nennen es Paralleljustiz, Befürworter Investitionsschutz: TTIP eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, Staaten auf Schadenersatz zu verklagen. Das kann passieren, wenn nach Gesetzesänderungen erwartete Gewinne ausbleiben. Das gilt aber nicht für einheimische Firmen. Ursprünglich sollten diese Klagen vor privaten Schiedsgerichten möglich sein. Die EU-Kommission schlägt jetzt vor, einen Handelsgerichtshof einzurichten, bei dem auch Revisionen möglich sind. Eine kosmetische Änderung, sagen die KritikerInnen. Sie fürchten, dass Regierungen aus Angst vor Klagen bestimmte Gesetze, etwa zum Umweltschutz, erst gar nicht erlassen. EU-Kommission und Bundesregierung bestreiten das. Das Klagerecht sei sehr eingeschränkt, sagen sie.

Gibt es mehr Jobs?

Mit dem Freihandelsabkommen wird die Wirtschaft angekurbelt, und damit entstehen mehr Arbeitsplätze, verspricht die EU-Kommission. Von einem „kostenlosen Konjunkturprogramm“ schwärmen deshalb die deutschen Wirtschaftsverbände. Ihre viel zu hohen Prognosen mussten sie inzwischen korrigieren. Ursprünglich sprachen die Verbände von Wachstumseffekten von 100 Milliarden Euro für beide Seiten im Jahr. Doch diese Summe ist laut einer EU-Studie insgesamt in zehn Jahren zu erwarten. Danach wird nach Abschluss des Pakts das reale Bruttoinlandsprodukt in den USA um 0,4, das der EU im Jahr 2027 um ein halbes Prozent höher sein. Manche Wissenschaftler bestreiten selbst das. Eine Untersuchung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem Schluss, das die erhofften Wachstums- und Beschäftigungseffekte des Abkommens „winzig“ sein würden, die Risiken im Vergleich viel zu hoch.

Verhandelt wird topsecret

Nach Protesten gegen den Mangel an Transparenz der Verhandlungen hat die EU-Kommission einen Lesesaal zur Einsicht der wichtigsten Dokumente eingerichtet. Aber: Handys müssen BesucherInnen abgeben, die Lesezeit ist auf vier Stunden täglich begrenzt. Nur ein handverlesener Kreis wie Regierungsmitglieder und Bundestagsabgeordnete hat Zugang. Jetzt will die Grünen-Bundestagsfraktion gegen den restriktiven Zugang klagen. Selbst Landtagsabgeordnete dürfen nicht in den Lesesaal, obwohl später die Landesregierungen im Bundesrat über TTIP abstimmen sollen. Die EU veröffentlicht viele Dokumente zu TTIP, aber die USA erklären alle Unterlagen für topsecret. Unklar ist, mit welchem Verhandlungsmandat die US-Delegation ausgestattet ist, über was sie also überhaupt verhandeln will. KritikerInnen verlangen von der EU-Kommission, die Geheimniskrämerei der anderen Seite nicht einfach hinzunehmen. Sie fordern eine Debatte über TTIP. Das sei nur möglich, wenn man die Inhalte auch kenne.

Am Sonntag, 24.4., eröffnen US-Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel die Hannover-Messe. Sie sprechen auch über das umstrittenen Handelsabkommen TTIP, das die EU und die USA in diesem Sommer unter Dach und Fach bringen wollen. Kritiker fürchten, dass mit TTIP Konzerne mehr Macht bekommen und wichtige Verbraucher- und Umweltstandards sinken werden. Am Samstag wollen Zehntausende in Hannover protestieren. Die taz begleitet die Besuche mit einem TTIP-Special am Freitag.

Lobby kontrolliert Gesetze

Mit TTIP wollen die VerhandlungspartnerInnen nicht nur klassische Handelshürden wie Zölle abbauen. Sie wollen auch verhindern, dass in Zukunft überhaupt Regeln aufgestellt werden, die den Handel behindern könnten. Das heißt: Kein Gesetz soll entstehen, ohne dass der Partner in Übersee vorher über das Vorhaben informiert wird – und damit die sogenannten Stakeholder, die Interessengruppen. Das wird regulatorische Kooperation genannt. KritikerInnen sind empört: Sie sprechen von einer Selbstentmachtung der Parlamente, wenn andere Instanzen vor den gewählten Abgeordneten Kenntnis von geplanten Gesetzen bekommen. Sie fürchten, dass LobbyistInnen auf die Pläne der Regierungen Einfluss nehmen und sie in ihrem Sinne verändern können. TTIP-VerfechterInnen bestreiten, dass das geschehen wird. Sie verweisen darauf, dass die Vorabinformation ein übliches Verfahren ist. Damit können Unternehmen die Gesetzgeber rechtzeitig informieren, wenn sie sich von Regularien benachteiligt sehen.

Privates Wasser?

In den USA dürfen öffentliche Einrichtungen oft Aufträge nur an einheimische Firmen vergeben. Das soll mit TTIP anders werden, was gerade deutsche Unternehmen sehr freut. Allerdings fürchten Kommunen und Länder hierzulande, dass sie im Gegenzug Einrichtungen privatisieren müssen, etwa Kliniken oder Hochschulen. Oder privatisierte Einrichtungen wie Energieversorger nicht rekommunalisieren dürfen. Die EU will laut Verhandlungsmandat öffentliche Dienstleistungen wie Justiz, Polizei oder Strafvollzug von der Liberalisierung ausklammern, nicht aber zum Beispiel die Wasser- oder Abwasserversorgung. Bei Ceta, dem Vorbildabkommen für TTIP, gibt es keinen Privatisierungsdruck, sagt Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD). Auch die Rekommunalisierung sei ausdrücklich vorgesehen.

Werden Medikamente teurer?

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) fürchten die Liberalisierung des öffentlich finanzierten Gesundheitswesens in Europa. Die EU-Kommission weist das zwar mit dem Argument zurück, darüber werde nicht verhandelt. Aber auch Bestimmungen aus anderen Bereichen wie dem Investitionsschutz können Folgen für das Gesundheitswesen haben. Verhandelt wird über Arzneimittel und Medizinprodukte. Eine Ausweitung des Patentschutzes könnte dazu führen, dass teure Arzneimittel nicht mehr durch billige Nachahmerprodukte ersetzt werden dürfen. Krankenkassen warnen davor, dass die Pharmaindustrie mehr Einfluss bekommt. Heute können die Kassen etwa mit Rabattverträgen die Kosten für Medikamente begrenzen. Dürfen sie das nicht mehr, steigen die Ausgaben drastisch.

Angrillen mit Hormonfleisch

Verbraucherschützer warnen vor Genmais und Hormonfleisch, die in europäische Geschäfte kommen könnten. Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät, warnt vor einem laxeren Umgang mit Lebensmittelrisiken durch TTIP. Die EU-Kommission winkt ab: Eine Absenkung bestehender Standards werde es nicht geben, heißt es. Aber Fakt ist: Es gibt grundsätzliche Unterschiede im Verbraucherschutz. In Europa gilt das Vorsorgeprinzip. Der Staat schreitet ein, wenn Gesundheits- oder Umweltgefahren absehbar sind. In den USA gilt eine andere Philosophie: Verbote oder Einschränkungen sind seltener, Konzerne sollen durch drakonische Strafandrohungen von mangelhaftem Verbraucherschutz abgeschreckt werden.

Leidet der Mittelstand?

Wirtschaftsverbände und PolitikerInnen erklären immer wieder, dass TTIP gerade kleineren und mittelgroßen Unternehmen nutzen wird. Denn für sie ist es schwierig, bei Lieferungen in die USA die bürokratischen Hürden zu überwinden. Aber viele EigentümerInnen und ManagerInnen mittelständischer Firmen blicken mit Argwohn auf das Abkommen. Sie fürchten, dass Konzerne aus den USA ihnen Marktanteile wegnehmen. In der EU gibt es bereits einheitliche technische Standards, die sich die Konkurrenz aus Übersee leicht aneignen kann. In den USA dagegen haben die Bundesstaaten verschiedenen Normen – was auch TTIP nicht ändert. Das schränkt die Möglichkeiten kleinerer Firmen ein, die nicht Dutzende von Produktvarianten entwickeln können.

Werden Biobauern überrollt?

Die klassische Funktion von Freihandelsabkommen ist der Abbau von Zöllen. Abgaben auf eingeführte Waren sind für ausländische Lieferanten eine hohe Hürde – und für einheimische Produzenten ein mitunter wichtiger Schutz. Mit TTIP sollen 97 Prozent aller Zölle zwischen den USA und der EU abgeschafft werden. Der Verband der Deutschen Autoindustrie geht davon aus, dass seine Mitglieder dadurch 1 Milliarde Euro jährlich sparen. Aber nicht alle Branchen profitieren. Biobauern und Landwirte mit kleineren Höfen haben Angst, von der Agrarindustrie aus den USA überrollt zu werden. Weil die Farmen in den Vereinigten Staaten weitaus größer sind als in Europa, können sie viel günstiger produzieren. Auch Bioprodukte.

Biobauern und Landwirte mit kleineren Höfen haben Angst, von der Agrarindustrie aus den USA überrollt zu werden

Sind ärmere Länder gefährdet?

Brasilien wird künftig deutlich weniger Orangen nach Europa exportieren, weil mehr Zitrusfrüchte aus den USA geliefert werden – erwarten Experten. Nimmt der Handel zwischen den USA und der EU in Zukunft zu, haben andere Staaten das Nachsehen. Vor allem für arme Länder kann das zu großen Problemen führen, warnen Entwicklungshilfeorganisationen wie Brot für die Welt. Denn dann sinkt ihr Handelsvolumen. Aber: TTIP eröffne gerade diesen Staaten auch Chancen, sagen Ökonomen. Denn beliefern diese Länder heute nur die USA oder nur die EU, werde ihnen durch das Abkommen der Zugang zum jeweils anderen Markt ermöglicht. Das könne ihre Absatzchancen enorm erhöhen – wenn ihre Produkte oder Rohstoffe wettbewerbsfähig sind.

Ist das Streikrecht in Gefahr?

Im Land des Hire-and-Fire gibt es kaum Kündigungsschutz, der Urlaubsanspruch ist viel geringer als etwa in Deutschland. In den USA behindern Unternehmen die Arbeit von Gewerkschaften weitaus massiver als hierzulande. Die USA haben bis heute nicht alle Kernforderungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anerkannt. Dazu gehört das Recht auf eine kollektive ArbeitnehmerInnenvertretung, mit der zum Beispiel mittels Tarifverträgen höhere Löhne durchgesetzt werden. Deshalb fürchten Gewerkschaften, dass durch TTIP Rechte von Beschäftigten massiv abgebaut werden – falls Unternehmen Mitbestimmung oder Streikrecht als Handelshemmnis definieren. TTIP-Befürworter argumentieren dagegen, dass Sozialdumping im transatlantischen Handel keine Chance hat – und letztlich die weniger geschützten US-Beschäftigten vom Abkommen profitieren werden.

Die Kultur steht auf der Kippe

Eine Premiere: Zum ersten Mal hat der Deutsche Kulturrat im vergangenen Oktober mit dem Stopp-TTIP-Protest in Berlin eine Demonstration unterstützt. Auch in Hannover ist er wieder mit von der Partie. Er sieht mit TTIP große Gefahren auf den europäischen Kulturbetrieb zukommen. Denn ob Theater, Oper oder Museen – hierzulande werden viele kulturelle Einrichtungen subventioniert. US-Firmen könnten das als Handelshemmnis betrachten und sie per Gerichtsentscheid zum Schließen zwingen. Die Bundesregierung betont, TTIP erhalte den europäischen Status quo. Aber Kommunen fürchten trotzdem um ihre Angebote. Umstritten ist, ob die Buchpreisbindung mit TTIP wegfällt. PolitikerInnen sagen nein. Aber auch hier gilt: US-Verlage könnten dagegen klagen.

Bayern-Bier ist aus Oregon

In Europa dürfen bestimmte Produkte exklusiv unter Bezeichnungen vermarktet werden, die auf ihre Herkunft hinweisen, zum Beispiel Bayrisches Bier, Lübecker Marzipan, Nürnberger Lebkuchen oder Spreewaldgurken. Regionale Spezialitäten mit geografischen Ursprungsangaben sind nach EU-Recht geschützt. Konkurrenten aus anderen Regionen dürfen sie nicht verwenden. Die USA kennen und wollen solche geschützten Herkunftsbezeichnungen nicht. Im Verhandlungsmandat der EU für TTIP steht zwar, dass sich ihre Delegation für den Schutz der Ursprungsbezeichnungen einsetzen soll. Aber ob die EU sich durchsetzt, ist offen. Kommt es ganz schlimm, droht den europäischen Herstellern regionaler Spezialitäten Konkurrenz aus Übersee. Und den VerbraucherInnen Verwirrung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.