Vier oder sechs Jahre?: Der Grundschulkrampf

Die Zündelei des Schulforschers Lehmann hat sich gelohnt: Der Zoff, ob Arztkinder überhaupt mit Hartz-IV-Kindern zusammen lernen können, ist voll entbrannt.

Die Furcht vor der langen Grundschule flammt wieder auf: Wie lange sollen Kinder künftig in der Grundschule lernen? Bild: dpa

Neulich auf einer Elternliste: "Ich bin schockiert über das, was Schwarz-Grün da gerade in Hamburg vorhat", schreibt eine Mutter von zwei Kindern, in Hamburg lebend. "6 Jahre Grundschule hat in Berlin schon nicht geklappt, und nun will man den gleichen Fehler in Hamburg begehen?" Und ein unbedarfter Vater antwortet: "Wie, dann entscheiden ganz allein die Lehrer, auf welche weiterführende Schule mein Kind nach sechs Jahren geht?" Empörung macht sich breit in der Hansestadt.

Und auch unter Berlinern flammt die Furcht vor der langen Grundschule wieder auf. Auf Elternlisten fühlt man sich bestätigt in dem, "was eigentlich jeder weiß, nur einige nicht wahrhaben wollen" - dass die fünften und sechsten Grundschulklassen in Berlin nicht funktionieren. Prompt hat der Vorsitzende des Landeselternausschusses, André Schindler, eine Initiative zur Abschaffung der sechsjährigen Grundschule gestartet. Natürlich hat Schindler das listiger formuliert - denn die Elternschaft ist tief gespalten bei diesem Thema. Es gebe zu viele unterschiedliche Eingangsklassen bei Gymnasien, bemängelte Schindler. Auf Deutsch: Das muss vereinfacht und vereinheitlicht werden.

Die Zündelei des Professor Rainer Lehmann hat sich also gelohnt. Er ist der Vater des neuen Grundschulkrampfs. In mehreren Interviews sagte der Berliner Schulforscher: Die Erwartungen an das längere gemeinsame Lernen in den Grundschulen hätten sich nicht erfüllt. Gymnasiale Sechstklässler stünden nach zwei Jahren Gymi besser da als ihre Vergleichsgruppe aus der Grundschule. Zudem schlage die soziale Abhängigkeit der Leistungen dort stärker zu Buche. Und so wird als Gesetz genommen, was Rainer Lehmann erzählt. Die Zeit verkündet auf dem Titel, "Experiment gescheitert".

Das Problem Lehmanns, der in der Szene durchaus anerkannt ist: Wer seine am späten Montag Nachmittag veröffentlichte Studie ansieht, kommt zu ganz anderen Schlüssen als Lehmann selbst. Exzellente Forscher hatten bereits vorher gewarnt: Was der Mann sagt, ist durch das, was er schreibt, gar nicht gedeckt. So stellt Lehmann nun fest, dass in Berlin der Übergang in die fünften Gymnasialklassen durch eine extreme "Selbstselektion" der Eltern bestimmt wird. In Berlin dauert die Grundschule normalerweise sechs Jahre - wer sein Kind dort nach der vierten herausnimmt, gehört zu den besonders Bildungsbeflissenen.

Damit bestätigt Lehmann einen Befund aus seinem Zwischenbericht der Studie aus dem Jahr 2003: Die Gymnasiasten haben sich bereits nach einem Tag in der fünften Klasse ihrer neuen Schule abgesetzt - ohne auch nur eine Minute dort gelernt zu haben. Über Nacht, also mit dem Wechsel ins Gymnasium, haben 10-jährige Pennäler plötzlich einen Lernvorsprung von gut zwei Jahren. Von da ab, so das Ergebnis der druckfrischen Studie, geht es an Gymnasium und Grundschule relativ gut bergauf. Mit einem Unterschied: Die Grundschule fördert besonders das untere Leistungssegment; das Gymnasium verschafft allen Schülern Wissenszuwachs.

Was die Forscher und Eltern mit der sechsjährigen Grundschule so treiben, ist überhaupt nicht neu. In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es eine regelrechte Schlacht um die Grundschule. Die höheren Schichten, die ihre Kinder von jeher aufs Gymnasium schickten, mieden tunlichst die mit 60 Kindern überladenen Volksschulen. Die Kinder der feinen Leute lernten an eigenen gymnasialen Vorschulen oder mit Privatlehrern in Vorbereitungszirkeln. Und als die SPD damals auf die Idee kam, eine gemeinsame Grundschule zu fordern, wurde mit allem gekämpft, was möglich war. Die feine Variante war, maliziös festzustellen, dass die Politik bestimmten Kindern die beste Förderung vorenthalte - indem man sie in überfüllte Volksschulen zwinge. Die grobe Variante hieß schlicht, eine Grundschule für alle sei das Werk der Novemberverbrecher.

Heute haben sich die Varianten vereinfacht. Das Grobe und das Feine kommen zusammen. Etwa in einem Satz von Rainer Lehmann. Um seine Aussagen zu illustrieren, äußerte er gerade Folgendes: "Plakativ gesagt, bleiben Arzt-Kinder, die mit Hartz-IV-Kindern lernen, in ihren Lernerfolgen hinter Arzt-Kindern, die direkt aufs Gymnasium wechseln, zurück."

Auch für so einen Satz muss man kein Forscher sein, sondern ein schlichter Sozialrassist. Jemand, der Hartz-IV-Schulen cool findet, in denen Kinder eine reduzierten Lehrplan und geminderte Lebenschancen bekommen. Oder sich erinnern an das, was man früher hören konnte: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern und lern nicht mit ihnen. Der Krampf geht weiter.

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